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Misstrauen Sie dem unverwechselbaren Geschmack

Misstrauen Sie dem unverwechselbaren Geschmack

Titel: Misstrauen Sie dem unverwechselbaren Geschmack
Autoren: William Gibson
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Einleitung:
Afrikanisches Daumenklavier
    Als ich mit dem Schreiben von Literatur begann, wusste ich, dass ich keine Ahnung vom Schreiben hatte. An sich war es von Vorteil, mir meiner Ahnungslosigkeit bewusst zu sein, obwohl ich damals ziemliches Muffensausen deswegen hatte. Wer dazu bestimmt ist, Autor zu werden, dachte ich, muss doch auch über das nötige Handwerkzeug verfügen. Und da ich es nicht besaß, war ich womöglich nicht zum Schreiben bestimmt. Ich saß an meiner Schreibmaschine, auf der ich bis dahin lediglich ein paar studentische Hausarbeiten getippt hatte, und versuchte, einen Einstieg zu finden.
    Schließlich begann ich einen Satz und werkelte mehrere Monate daran herum. Er wurde immer länger und las sich schließlich so: »Nachdem Graham Nachmittag für Nachmittag in dem abgedunkelten Vorführungsraum verbracht hatte, wurden die absteigenden Zahlen auf dem Startband für ihn zu hypnagogischen Sigillen, die dem Traumzustand des Films vorausgingen.« Kann sein, dass die Figur nicht Graham hieß, sondern Bannister. Der Satz erinnerte so oder so in eklatanter Weise an den Stil J. G. Ballards, der seinen Protagonisten stets handfeste, alltägliche Nachnamen aus der britischen Mittelklasse gab.
    Ich hatte keinen blassen Schimmer, was der Satz bedeutete oder wie die Geschichte weitergehen sollte – was nicht unbedingt von Nachteil war, wie ich heute weiß. Ich hatte den ersten Schritt in die Welt der Fiktion getan, genau wie mein Protagonist. Eine Tür hatte sich geöffnet, wenn auch nur einen Spaltbreit. Im Geiste sah ich das verlassene Bürogebäude vormir, in dem Graham / Bannister seine Filmkritiken schrieb. Es hatte im Innenhof einen Springbrunnen, in dem neben den üblichen Münzen auch Dutzende Armbanduhren lagen, manche davon recht teuer. Vielleicht hatte die Zeit aufgehört zu existieren oder die Menschen wollten sie einfach nicht mehr zur Kenntnis nehmen. Und damit endete mein Vorstoß – die Tür schloss sich wieder. Möglicherweise spürte ich unterbewusst, dass mit einem Ballard-Abklatsch, selbst einem guten, keine Lorbeeren zu gewinnen waren.
    Einige meiner späteren Versuche spielten im Weltraum – allerdings in einem von Alfred Bester und Samuel R. Delany inspirierten. Ich kann mich beim besten Willen nicht mehr daran erinnern. Meine Frau parodiert sie manchmal scherzhaft mit dem Satz: »Mit einem Zittern seiner langen grünen Ohren glitt Fimo von der Anlage herunter.« Damals hatte ich einige Schwierigkeiten mit den Figurennamen. Eine Zeitlang erwog ich sogar ernsthaft, Produktnamen aus dem IKEA-Katalog zu verwenden. Außerdem gab es in den Geschichten immer eine »Anlage«. Eine bis dahin (zumindest für mich) unvorstellbare und daher noch namenlose Technologie. Schon damals ahnte ich, dass es besser ist, dem Leser die genauen Einzelheiten und die Funktionsweise dieser Technologie nicht gleich zu verraten, selbst wenn sie einem selbst schon klar sein mögen. Mit einem Satz wie »Javnaker glitt von dem Quantenuniversumsspalter herunter, der keine Zeitmaschine war« tut man dem Leser keinen Gefallen.
    Und es ist diese Erkenntnis, die mir auch einen Hinweis darauf liefert, wie wir lernen zu schreiben. Das Schreiben lernen wir nämlich zu einem Zeitpunkt, an dem wir das Lesen zu einem gewissen Grad schon gemeistert haben. Als ich mit dem Schreiben begann, hielt ich mich für einigermaßen belesen – zumindest was die Literatur anbelangte, die ich mochte. Welche Autoren wir gerne lesen, ist aber eigentlich zweitrangig,wichtig ist vielmehr, wie wir lesen. Wenn man selbst schreiben will, muss man lernen, verschiedene Leseerfahrungen zu vergleichen – die angenehmen und die unangenehmen – und daraus die eigenen Vorlieben abzuleiten. Es geht nicht um das direkte Nachahmen, sondern darum, eine ganz persönliche Mikrokultur zu schaffen.
    Da ich weiß, wie ernst angehende Schriftsteller die Aussagen von erfahrenen Autoren oft nehmen, beschränke ich mich in der Regel auf folgenden Rat: Möchte man Literatur schreiben, so ist es hilfreich, vorher eine Menge gelesen zu haben. Meistens wird es etwas dauern, bis man den richtigen Einstieg und die passende Vorgehensweise gefunden hat. Zum Beispiel erinnere ich mich kaum noch daran, wie ich Autofahren gelernt habe. Außer einem netten Trick zum Einparken ist mir aus dieser Zeit nichts in Erinnerung geblieben. Beim Schreibenlernen ist es nicht anders (nur dass kein nervöser Fahrlehrer neben einem sitzt – obwohl man den gewissermaßen selbst
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