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Misstrauen Sie dem unverwechselbaren Geschmack

Misstrauen Sie dem unverwechselbaren Geschmack

Titel: Misstrauen Sie dem unverwechselbaren Geschmack
Autoren: William Gibson
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fehlte, waren die Verben. Niemand dort konnte mir auch nur ansatzweise erklären, was ich denn genau täte , wenn ich mich mit einem dieser Geräte, nun, beschäftigen würde. Schreiben war es nicht und Regie führen auch nicht. Trotzdem waren diese Leute eindeutig an etwas dran und auch alle sehr eifrig bei der Sache. Aber ihnen mangelte es an Worten, um das, was sie taten, zu beschreiben.
    Ein weiteres Beispiel. Eine Woche später besuchte ich ein Spezialeffekte-Studio in einer ruhigen Nebenstraße im Norden Hollywoods und erlebte einen heftigen Zukunftsschock. Meine Gastgeber – allesamt junge, intelligente Wissenschaftler – hatten eine Echtzeit-Videopuppe entwickelt, einen Max Headroom mit ausdruckslosem Gesicht, der im imaginären Raum hinterdem Fernsehbildschirm hing. Mithilfe eines Steuergeräts, das entfernte Ähnlichkeit mit einem Gyroskop hatte, konnte ich diesen schlafenden Golem zum Zucken und Zittern bringen. Mir standen die Haare zu Berge. Am Ende der Führung erhielt ich eine Videoaufzeichnung davon, wie ein professioneller Puppenspieler die Puppe bewegt. Sie wirkte wesentlich natürlicher, als ich im Fernsehen jemals aussehen werde. Aber wie soll man beschreiben, was diese jungen, intelligenten Leute da machten?
    Wir rasen auf einen imaginären Wirbel zu, das Ende des Jahrhunderts …
    Wenn er morgens aufsteht, schaut er zehn Minuten Much-Music, während er darauf wartet, dass das Kaffeewasser kocht. Die Kinder schlafen noch, weil es noch nicht Zeit für Die Dinos ist. MuchMusic ist Kanadas Pendant zu MTV. Morgens schaut er es meistens ohne Ton, wenn nicht gerade ein Video aus Québec läuft. Das hört er sich an, weil er kein Französisch kann.
    Er will nicht, dass das Netz an den Überresten seiner nächtlichen Träume nagt. Jedenfalls nicht, solange er noch nicht bereit dafür ist.
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    Die Texte in diesem Buch sind nicht in chronologischer Reihenfolge angeordnet, aber dieser hier ist ein relativ frühes Beispiel. Damals bereitete mir die Frage, wie man an einen solchen Text herangeht, einiges Kopfzerbrechen. Allein die Tatsache, dass es sich um eine Auftragsarbeit handelte, erzeugte bei mir ein mulmiges Gefühl, wie ich mich erinnere.
    Woran ich mich nicht mehr ganz erinnere, ist, was ich damals mit dem »Netz« gemeint habe, auch wenn ich in dem Artikel mit dem Begriff so selbstverständlich um mich werfe. Damals kannte ich das Netz noch gar nicht, obwohl ich einige Freunde hatte, die viel davon redeten. Ich kommunizierte mit ihnen per Fax, über meterweise glattes, seltsam riechendes Thermopapier. Längere Dokumente wurden per FedEx geschickt,als Ausdruck oder auf Floppy-Disks. Mein Wissen über das »Netz«, soviel lässt sich also mit einiger Sicherheit sagen, war damals nur vorgetäuscht. Hatte es etwas mit diesen »E-Mails« zu tun, die manche Leute irgendwie zwischen ihren Computern hin- und herschickten? Oder war es ein abstrakterer Begriff, der den Cyberspace als Ganzes meinte? Vermutlich hatte ich Letzteres im Hinterkopf, formulierte den Text jedoch so, dass es den Eindruck erweckte, als sei ich mit Ersterem besser vertraut, als ich es in Wirklichkeit war.
    Ich glaube nicht, dass ich damals schon einen Computer mit Internetverbindung gesehen hatte. Der erste, an den ich mich erinnere, war mein eigener. Und den hatte ich erst ein paar Jahre später. Ich wartete, bis die Technik stark vereinfacht wurde – was zwangsläufig geschehen musste, dessen war ich mir sicher.
    Ein Rocket Radio hatte ich aber als Kind tatsächlich und fand auch einmal einen Fetzen braunes Magnetband am Straßenrand, woraus ich auf die Existenz der modernen Kassette schloss.
    Der Datsun Sunny B 210 mit den Rostlöchern im Bodenblech war ebenfalls mein eigener. Er stand draußen vor der Tür, während ich diesen Artikel schrieb.
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Autobiografie für meine Website
November 2002
    Gene Wolfe hat einmal gesagt: Ein Einzelkind zu sein, dessen Eltern verstorben sind, ist so, als sei man der einzige Überlebende des untergegangenen Atlantis. Eine komplette Zivilisation, ein ganzer Kontinent, einfach so verschwunden. Und man selbst ist der Einzige, der sich daran erinnert. So war es auch bei mir. Mein Vater starb, als ich sechs war, meine Mutter in meinem achtzehnten Lebensjahr. Brian Aldiss glaubt, dass sich im Leben eines jeden Romanautors ein frühes traumatisches Erlebnis finden lässt – meines bildet da keine Ausnahme.
    Ich wurde an der Küste South Carolinas geboren, wo meine Eltern gerne Urlaub machten, als
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