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Misstrauen Sie dem unverwechselbaren Geschmack

Misstrauen Sie dem unverwechselbaren Geschmack

Titel: Misstrauen Sie dem unverwechselbaren Geschmack
Autoren: William Gibson
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Wahrscheinlichkeit unbemannt sein.
    Marsianischer Jetlag – die Techniker, die von einem bequemen Sessel in der Luftwaffenbasis in Kalifornien aus einen dieser kleinen Radio-Shack-Wagen über die Marsoberfläche steuerten, waren die ersten Menschen, die ihn erlebten. Eigentlich sollten wir ihre Namen kennen: die ersten Menschen aufdem roten Planeten. Da wir jedoch dazu neigen, alles wörtlich zu verstehen, sind sie weitgehend unbekannt geblieben.
    Solche Dinge kann die Science Fiction meist nur schwer vorhersagen, und wenn, dann auch nur ungenügend beschreiben.
    Vannevar Bush, den ich vorhin schon erwähnte, war kein Science-Fiction-Autor. Während des Zweiten Weltkriegs war er der wichtigste wissenschaftliche Berater Franklin Roosevelts und Direktor des Office of Scientific Research and Development, wo er die Arbeiten überwachte, die zur Entwicklung der Atombombe führten. Der militärisch-industrielle Komplex, wie wir es heute nennen, ist mehr oder weniger seine Erfindung. 1945 veröffentlichte er in The Atlantic Monthly einen Beitrag mit dem Titel »Wie wir denken werden«. Darin beschreibt er ein System namens »Memex«, eine Abkürzung für »Memory Extender«. Ich kenne keinen vorausschauenderen Text, ob faktografisch oder fiktional, aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Es ist fast schon unheimlich.
    Der Artikel ist vor allem deshalb berühmt geworden, weil dort zum ersten Mal das Prinzip des »Hyperlinks« beschrieben wird, eine Methode, verschiedene, konzeptionell miteinander verknüpfte Dateneinheiten zu verbinden. Ich habe ihn jedoch anders gelesen. Meines Erachtens hat Vannevar Bush den Cyborg vorausgesehen, und zwar in dem Sinn, wie ich ihn vorhin beschrieben habe.
    Erstaunlicherweise spielt für ihn dabei die Elektronik kaum eine Rolle. Am Anfang des Artikels stellt er sich einen Ingenieur vor, einen Technokraten mit einer »walnussgroßen«, an der Stirn befestigten Kamera. Ihr Verschluss wird mit einer Fernbedienung von Hand ausgelöst. In die Brille des Technokraten ist ein Fadenkreuz geritzt. Er kann alles fotografieren, was er sieht.
    Bush stellt sich das wie ein Prä-Polaroid-Mikrofilmgerät vor. »Trockenfotografie« nennt er es. Und sein Technokrat machtwährend der Arbeit munter Aufnahmen von Projektstandorten, Entwürfen und Dokumenten.
    Der Memex selbst ist ein Schreibtisch (aus Eichenholz, wie Bush vorschlägt, was mich an meinen Fernseher aus dem Jahr 1952 erinnert) mit Mattglasbildschirmen auf der Oberfläche, wo der Benutzer die Bilder, die er zuvor mit der Walnuss auf der Stirn gemacht hat, aufrufen kann. Außerdem enthält der Schreibtisch alle Papiere und Geschäftsunterlagen des Benutzers und den Inhalt zahlreicher Spezialbibliotheken auf Microfiche.
    An dieser Stelle macht Bush den Leser mit der Idee vertraut, die ihm einen Platz in der Computergeschichte gesichert hat: die Vorstellung, einen »Pfad« durch die Daten zu markieren, mit dessen Hilfe man navigieren und seinen Weg zurückverfolgen kann. Die Hyperlink-Idee.
    Was ich sehe, wenn ich mir Bushs Ingenieur mit seiner Polaroid-Walnuss und seinem Eichenschreibtisch anschaue, ist jedoch ein Cyborg. In der doppelten Wortbedeutung. Ein Geschöpf der erweiterten, statt der virtuellen Realität. Er ist … wie wir! So nah an unserer Realität, wie jemand im Jahr 1945 (oder auch 1965) jemals gekommen ist. Bush konnte die Technologie des Schreibtischs noch nicht genau beschreiben, er begnügte sich deshalb mit dem, was er kannte. Im Grunde aber beschreibt er einen PC und dessen Benutzung, mit einer Genauigkeit in der Vorhersage, die mir immer noch eine Gänsehaut verursacht. Das Gedächtnis des Benutzers wird erweitert und mit ganzen borgesschen Bibliotheken verbunden, die er nach Belieben durchsuchen kann. Google! Der Memex, der auf den Suchbegriff des Ingenieurs wartet!
    In der realen Zukunft wurden die Schreibtische allerdings miteinander verbunden. Das Netz. Dass wir die Memexe miteinander verknüpfen und Gemeinschaftsbibliotheken schaffen würden, hat Bush nicht vorausgesehen, obwohl er der Sache näher gekommen ist als sonst jemand zu seiner Zeit.
    Das Internet ist der wahre kybernetische Organismus. Akzeptieren wir, dass nicht nur Dinge »real« sind, die wir anfassen können, ist das Internet ganz fraglos das größte menschengemachte Objekt der Welt oder wird es jedenfalls bald sein: Es übertrifft sogar noch das Telefonnetz und macht sich dieses zu Eigen. Und wir, die wir daran teilhaben, werden buchstäblich ein
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