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Misstrauen Sie dem unverwechselbaren Geschmack

Misstrauen Sie dem unverwechselbaren Geschmack

Titel: Misstrauen Sie dem unverwechselbaren Geschmack
Autoren: William Gibson
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spät in der Nacht sitzen und über dem neuesten Entwurf brüten kannst, der sich nur geringfügig vom vorigen unterscheidet, und darüber nachdenken, was nicht alles getan werden muss, damit so etwas Seltsames wie ein Film entsteht. Und irgendwie müssen sie ja entstehen, denn durch das Fenster, vorbei an den Palmen und dem Schatten des Marlboromanns, siehst du die Werbetafeln am Sunset, wo alle neuen Filme angekündigt werden. Dabei ist es eigentlich ganz unmöglich, einen Film herzustellen. Absolut unmöglich. Nicht machbar. Und doch. Und doch … Dein Leben, zumindest der Teil, der mit dem Zustandekommen dieses Films zu tun hat, hat sich längst in eine Kafka-Schleife verwandelt. Allerdings Kafka, wie ihn Fox Network umsetzen würde. Bis du schließlich nach Hause gehst. Zurück in die Welt. Doch irgendwann zieht es dich wieder hierher, wie ein Bungeeseil aus bezahlten Erste-Klasse-Flugtickets. Es muss eine Art Manie sein, ein Zwang, die Kafka-Schleife erneut zu durchlaufen, sie vielleicht mit einem Ja zu beenden, das anfangs immer klingt wie ein Nein, Nein, Nein, Nein, Nein und dann doch eher einem Ja ähnelt, aber nein, nein, nein und ja, natürlich – außer, wenn wir Nein meinen.
    Und dann schlägt dir unverhofft praktisch von überallher ein Ja entgegen, und dir stehen plötzlich mehrere Millionen Dollar für dein Projekt zur Verfügung (eine erstaunlich nutzlose Menge Geld, wie du erfährst, die unter keinen Umständen, sogar bei einem tatsächlichen Zustandekommen des Films, jemals dir gehören wird). Doch hier und da gibt es immer noch ein Nein, und das bedeutet, dass irgendeine unheimliche Wesenheit in Dimension Z, sei es eine gesichtslose Bankerin auf den Bahamas, ihr Cousin, der Pariser Steueranwalt, ein Buchhalter aus Alaska oder Herr Virek in seinem Designer-Krebsbottich in Neo-Zürich (und glaub mir, du wirst es nie erfahren) den Scheck nicht unterzeichnen wird, den du brauchst, um»Talente« – d. h. namhafte Schauspieler – an Land zu ziehen, ohne die du diesen Film nicht machen kannst. Und so geht es weiter … und immer weiter.
    Sodass du am Ende leider kaum mitbekommst, wie du durch die allerletzte Membran gespült wirst. Seltsamerweise und vielleicht sogar glücklicherweise ficht dich das alles nicht mehr an. Du fühlst dich wie eines dieser unglückseligen, aber liebenswert toughen Persönlichkeitskonstrukte in einem Roman von William Gibson. Der Teil von dir, der noch am menschlichsten ist, lebt in den Leerstellen einer Software namens »Drehbuchautor«. Sämtliche Erfahrungen werden dem »Arbeitsmenü« dieser Software untergeordnet. Betrittst du einen Raum, bist du einen Moment lang verwirrt: Gehört das unter den Menüpunkt »Szene« oder unter »Action«? Du bist dir nicht ganz sicher und sagst deshalb irgendetwas zu dem ersten Menschen, der dir begegnet, egal was, weil das auf jeden Fall unter »Dialog« gehört. In den letzten zwei Monaten hast du vierzehn Stunden am Tag, sechs Tage die Woche gearbeitet. Deine Familie, wenn sie dich denn zu sehen bekommt, schaut dich schon merkwürdig an. Du träumst von einem persönlichen Assistenten, der den Kleinkram erledigt, wie etwa mit deinen Kindern zu reden oder deine Zähne zu putzen. Du erlebst Momente schrecklicher Klarheit, in denen du begreifst, wie furchtbar albern das Ganze doch ist. Derweil ist dein Freund, der angehende Regisseur, nach Toronto gefahren, wo »der Film« – du denkst nur noch in Anführungszeichen daran – angeblich gedreht werden soll. Er ist mit seiner schwangeren Frau und ihren beiden Kindern aus früherer Ehe in den bittersten, albtraumhaftesten Winter der kanadischen Geschichte gezogen. Und er hat bereits Millionen von Dollar für … irgendetwas ausgegeben. Du bist dir nicht ganz sicher, wofür. Und der Scheck wurde noch nicht unterzeichnet. Nicht ganz. Nein.
    Und dann unterzeichnen sie ihn doch. Und der Regisseur –jetzt ist er einer – beginnt mit den Dreharbeiten. Die Dinge überschlagen sich. Denn nun steht das Filmteam vor der unbarmherzigen Aufgabe, hundertfünf Seiten einer plötzlich sehr komplizierten Story in nur sechsundfünfzig Tagen abzudrehen. Mittlerweile wurden auch die Talente an Land gezogen. Schauspieler sind eingetroffen, um die Geschöpfe deiner Fantasie zu verkörpern. Das ist alles sehr merkwürdig. Leute mit Walkie-Talkies. Autos und Fahrer. Catering-Transporter. Die Hauptdarstellerin befindet sich hinter der Kulisse des Pekinger Hotels und übt, Ninja-Wurfpfeile auf eine
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