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Misstrauen Sie dem unverwechselbaren Geschmack

Misstrauen Sie dem unverwechselbaren Geschmack

Titel: Misstrauen Sie dem unverwechselbaren Geschmack
Autoren: William Gibson
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oder vielleicht auch nur Agonisten) in ein MacGuffin, was ich damals aber noch nicht wusste. Mustererkennung kam zum Glück kurz vor der Einführung von YouTube auf den Markt, was wegen einiger Elemente der Handlung eine gute Sache war.
    Seit es YouTube gibt, ist es wahrscheinlich auch nicht mehr so leicht, eine Zeitschrift davon zu überzeugen, einem einen Aufenthalt im Marmont zu spendieren, um Digitalfilme anzuschauen – das war also ebenfalls gutes Timing.
    Über ein Jahrzehnt später scheint sich das digitale Kino genau in die von mir vorhergesagte Richtung zu entwickeln, allerdings mit dem paradoxen Problem, dass die mangelnde Verbreitung der Filme in den Kinos immer noch bedeutet, dass sie quasi nicht existieren. Eine ungleichmäßig verteilte Zukunft ist das, behindert von den gewaltig aufragenden Rändern des Fußabdrucks der vorangegangenen Medienplattform … allerdings werden die wahren Kubricks sich davon sicher nicht abhalten lassen, ihre Filme zu drehen.
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Wired
Juli 1995
    An einem klaren, kalten, späten Montagmorgen in Toronto im Februar 1994 stehe ich unter der schummrigen hohen Decke eines viktorianischen Backsteingebäudes an der Lansdowne Avenue, vielleicht eine ehemalige Gießerei für Dampfmaschinen, in der sich gegenwärtig eine Anlage von General Electric befindet. Der Raum ist gewaltig, und er ist unterteilt in viele andere Räume, alle ohne Decke, aber mit darüber aufgehängten Lampen. Hier der akribisch genaue Nachbau einer Hotelsuite aus dem Peking des frühen 21. Jahrhunderts (wenngleich die unechten Philippe-Starck-Sessel vor Kurzem von Flechettes zerfetzt wurden und seither Gänsedaunen über den wunderbar hässlichen Teppich wehen). Dort das Hinterzimmer der Drome-Bar, mit schmierigen Rohren, die aus Gilliams Brazil stammen könnten. Und da drüben, im Plastik-Ziploc-Beutel eines Requisiteurs befindet sich etwas, das aussieht wie eine Mischung aus dem Schmuck einer Fetisch-Queen und dem vorderen Ende eines Roto-Rooters, eine Waffe, wie sie im menschlichen Universum bis dato noch nicht existierte. Das heißt, außer hinter meiner Stirn. Und weil das so ist, sind wir auch so oft in einem Mietwagen nach Century City gefahren, mit heruntergekurbelten Fenstern und eingeschalteter Klimaanlage, wie Diebe, die versuchen, in ein gut gesichertes System einzudringen …
    Die Hotels des Sunset Strip sind mir inzwischen bestens vertraut. In den letzten vier Jahren bin ich vom Bel Age zum Le Reve und dem St. James weitergezogen und schließlich imChateau Marmont gelandet, diesem geschichtsträchtigen Gebäudekomplex, wo die Geister Jim Morrisons und Gram Parsons’ (die dort zwar nicht gestorben sind, aber einige Zeit abgehangen haben) nachts mit dem Geist von John Belushi am Pool sitzen (der tatsächlich dort gestorben ist). Ich machte es mir zur Angewohnheit, in den 9er Suiten zu übernachten: 39, 49, 59, 69. Die haben Balkone, die auf den Strip hinausgehen und über die gesamte Länge des Gebäudes verlaufen, und mehr Zimmer, als man während eines Aufenthalts erkunden kann. Sie erinnern an riesige Hollywoodapartments aus den 20er-Jahren, deren ursprüngliche Einrichtung und Einbauten noch weitgehend intakt sind. Große weiße Gasherde, deaktivierte Speiseaufzüge, Schränke mit Zedernholzeinsätzen und ausklappbaren Bügelbrettern. Ein Ort voller Geheimnisse. Und voller faszinierender europäischer Touristen, die sich an der Rezeption über den schlechten Empfang des Miethandys ihrer Frau beschweren. Offenbar hören sie fremde Stimmen, die klingen, als würden sie aus der tiefsten Vergangenheit zu ihnen sprechen. Im Motorola von Frau X murmelt ein Verrückter etwas über das abgetrennte Fingerglied eines längst vergessenen Filmsternchens aus den Fünfzigern, das bis zum heutigen Tag im verschlossenen Schubfach des merkwürdigen braunen Möbelstücks im Flur von Suite Sechzigirgendwas liegt – der genaue Ort ist nie zu verstehen, weil der Geist in der Maschine vom wilden Geplapper des russischen Taxifunks übertönt wird, der vom Verkehr auf dem Strip heraufdringt, wo die Taxifahrer – hauptsächlich Vietnamesen, als ich anfing, meine Zeit hier abzusitzen (War das vor vier Jahren? Oder fünf?) – heute größtenteils aus Wladiwostok stammen.
    Was nicht heißen soll, dass ich im Marmont nicht glücklich war. Im Gegenteil. Es ist mein zweites Zuhause geworden. Ohne jeden Glamour. Und immer geduldig, das Marmont. Ein Ort, der stolz ist auf sein künstlerisches Erbe.
    Ein Ort, wo du bis
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