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Misstrauen Sie dem unverwechselbaren Geschmack

Misstrauen Sie dem unverwechselbaren Geschmack

Titel: Misstrauen Sie dem unverwechselbaren Geschmack
Autoren: William Gibson
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Digitalfilmfestival, das vor Kurzem am Londoner Institute of Contemporary Arts stattfand, »aber für Club-Graffiti ist sie eindeutig zu teuer.«
    Wir sind zu Roger gefahren, um seinen Videorekorder zu benutzen, der verschiedene Formate schluckt, weil unsere englische Kassette in PAL ist. Aber es gibt ein Problem mit der Kassette oder dem Videorekorder oder damit, wie beide interagieren: Die Bilder, größtenteils Clipart, sind in Schwarzweiß, obwohl sie eigentlich in Farbe sein sollten.
    Sie auf diese Weise anzuschauen, weckt bei mir Schuldgefühle. Es ist unfair den Filmemachern gegenüber. Allerdings verstärkt sich dadurch der Eindruck, dass wir es hier mit Hintergrundbildern für Clubs oder neurologischen Werkzeugen für den Genuss verbotener Substanzen oder beidem zu tun haben. Könnten wir diese Bilder an die Wand projizieren, mit vollem Dolby-Sound, würden sie sicher ein paar Synapsen zum Schlackern bringen. Auf dem Fernsehbildschirm sind sie jedoch lediglich Designfingerübungen.
    Der Grubenvogel ist zwar noch nicht ins Koma gefallen, aber zuschauen tut er auch nicht mehr. Stattdessen zieht er es vor, mit drei Zitronen von einem Baum in Rogers Vorgarten zu jonglieren.
    Ich kann nicht einschlafen. Der Garagen-Kubrick murmelt vor sich hin und hält mich wach. Braucht ihn wirklich jemand? Wird er jemals Realität werden?
    Manche Leute beschweren sich über die Textur digitaler Bilder – angeblich mangelt es ihnen an Sättigung und Tiefe. Dasselbe habe ich auch schon über CDs gehört. Jemand erzählte mir einmal, Mark Twain sei der erste Autor gewesen, der ein Schreibmaschinenmanuskript bei einem Verlag eingereicht hätte. Der Verlag reagierte skeptisch: Einem auf einer Maschine geschriebenen Werk musste es doch zwangsläufig an Ideenreichtum und Tiefe fehlen.
    Aber, meldet sich ein sehr amerikanischer Teil von mir zu Wort, Dinge (wenn schon nicht Menschen) können doch sicher besser werden, und was das frühe Entwicklungsstadiumeiner Technologie vermissen lässt, kann in einem späteren Stadium behoben sein oder von einer neuen Technologie geleistet werden, die huckepack auf dem Rücken einer anderen daherkommt.
    Mein Garagen-Kubrick will jedenfalls volle fraktale Sättigung. Er will die Textur des Traums beeinflussen können, bis hin zum feinsten Körnchen, der absolut höchsten Auflösung. Er will seine Figuren von Grund auf selbst gestalten. Er denkt dabei nicht an Schauspieler, sondern an Modelle für die Bewegungserfassung. Sein Medium ist beliebig formbar, auf eine Weise, wie es zuvor noch nie möglich war. Und heute auch noch nicht möglich ist, wie ich mich erinnern muss.
    Aber irgendwann wird es soweit sein. Zwangsläufig.
    Das digitale Kino besitzt das Potenzial, den Prozess des Filmemachens zu öffnen, zu entmythologisieren und uns Aspekte der Welt zu zeigen, die wir so noch nicht gesehen haben. Es wird die »Augen« des erweiterten Nervensystems abgeben, das wir als Spezies im Laufe des vergangenen Jahrhunderts ausgebildet haben.
    Dabei nur an Unterhaltung oder Kunst zu denken, ist zu kurz gegriffen. Wir bauen uns Spiegel der Erinnerung – öffentliche Spiegel, die umherspazieren und sich alles merken, was sie sehen. Eine Art Magie.
    Wie das Malen von Bildern an Höhlenwände, nur dass hier der Geist des Malers der Spiegel war, der das erinnerte Objekt mitunter grotesk verzerrte. Und die Höhle ist zugleich auch die Garage meines Kubricks. Was immer er darin so fieberhaft zusammenbraut, wird einfach ein weiterer menschlicher Traum sein. (Warum er oder wir bereit sind, so fieberhaft an diesem Projekt zu arbeiten, ist und bleibt allerdings ein Rätsel.)
    Manche Menschen werden die Technologie des Digitalfilms dazu einsetzen, Orte und Völker, die noch nicht ausreichend erforscht wurden, genauer unter die Lupe zu nehmen. Werdendie Standpipes dieser Welt dadurch über die Sichtbarkeitsschwelle befördert, ist das allein schon ein Fortschritt.
    Andere, wie mein Garagen-Kubrick, werden die Technologie benutzen, um tiefer und obsessiver in das unlösbare Rätsel des Ichs vorzudringen, während das Chateau Marmont die Medienplattform und das Studiosystem überleben wird, denen es seine Entstehung verdankt.
    Im Einschlafen sehe ich ein virtuelles Marmont vor mir, und in einem der Bungalows schläft gerade jemand ein …
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    Während ich diesen Essay schrieb, war mein Roman Mustererkennung bereits im Entwicklungsstadium, der »Garagen-Kubrick« verwandelte sich vom Protagonisten (oder Antagonisten
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