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Misstrauen Sie dem unverwechselbaren Geschmack

Misstrauen Sie dem unverwechselbaren Geschmack

Titel: Misstrauen Sie dem unverwechselbaren Geschmack
Autoren: William Gibson
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schuf sich gemeinschaftlich ein erweitertes Nervensystem und tat damit vieles, was bis dahin unmöglich gewesen war: Man konnte Dinge aus der Ferne sehen oder Ereignisse, die in der Vergangenheit passiert waren. Man konnte Tote reden hören. Die einstigen Grenzen der Erfahrungswelt waren auf erstaunliche Weise verändert, aufgebrochen und erweitert worden. Und so würde es weitergehen. Das Erstaunlichste daran aber war, wie selbstverständlich wir das alles hinnahmen.
    Der Cyborg der Science Fiction war buchstäblich eine Schimäre aus Fleisch und Maschine. Der echte Cyborg entsteht durch das erweiterte menschliche Nervensystem: Film, Radio, Fernsehen initiierten einen Wandel in der Wahrnehmung, der so grundlegend ist, dass wir ihn wohl immer noch nicht ganz begriffen haben. Durch das Fernsehen wurden wir Teil eines elektronischen Gehirns. Unsere Wahrnehmung wurde erweitert. Als in den Achtzigern die virtuelle Realität in aller Munde war, wurden uns … Fernsehbilder gezeigt! Ist der Inhalt fesselndgenug, brauchen wir keine Videobrille, um die Welt auszublenden. Wir schaffen einfach eine neue Welt, indem wir ausschließlich die Inhalte betrachten, die uns interessieren, und sonst nichts.
    Die körperliche Einheit von Mensch und Maschine, lange befürchtet und lange vorausgeahnt, ist schon seit Jahrzehnten vollendete Tatsache, auch wenn es uns in der Regel nicht auffällt. Und zwar deshalb, weil wir mitten drin stecken und uns immer noch auf newtonsche Bezugssysteme verlassen, wonach die Realität nur das ist, was wir sehen oder berühren können. Was natürlich nicht stimmt. Die Elektronen, die vom Bildschirm eines Holzfernsehers in das Auge eines Kindes strömen, sind genauso real wie vieles andere. Zum Beispiel die Neuronen im Sehnerv des Kindes. Oder die Strukturen und chemischen Verbindungen in seinem Gehirn. Wir alle sind Teil eines gewaltigen Konstrukts künstlich verknüpfter Nervensysteme. Und es ist unsichtbar. Wir können es nicht berühren.
    Wir sind das Konstrukt. Wir sind längst wie die Borg, aber offenbar brauchen wir Mythen, um uns das bewusst zu machen.
    Zurück zur Zeit der Dampfmaschine. Irgendwann in den späten Siebzigern, in Garagen in Kalifornien. Das elektronische Gehirn steht auf dem Tisch. Und es hat keine Ähnlichkeit mit Dr. Asimovs ethischen Robotern. Arme und Beine wären lediglich Peripheriegeräte. Jedes einigermaßen gebildete Kind weiß heute, dass ein Roboter bloß ein Computer ist, der von seinen Peripheriegeräten durch die Gegend getragen wird. Vermutlich erklären sich daraus auch die miesen Verkaufszahlen moderner menschenähnlicher Roboter. Irgendwie sind sie alle ein bisschen peinlich. Aibo, ein Roboterhund von Sony, war da schon erfolgreicher. Wer würde heute nicht einen leistungsstärkeren Computer oder schnelleren Internetanschluss vorziehen? Da findet die Action statt. In der Erweiterung des Benutzers.
    Die Rückkehr der menschenähnlichen Roboter hat mich sogar ein bisschen enttäuscht. Ich hatte geglaubt, inzwischen hätten es alle begriffen: dass man nicht anthropozentrisch denken muss, um gute Leistung zu erhalten. Im Gegenteil, man bekommt auf diese Weise sogar weniger für sein Geld. Meine Vorstellung von einem effizienten Roboter wäre heute eine amerikanische Predator-Drohne mit Hellfire-Raketen oder eines der Äquivalente in Fliegengröße, die angeblich auf den CAD / CAM-Bildschirmen des Pentagons bereits existieren, wenn sie nicht gar schon im Einsatz sind. Sie sind zugleich auch Cyborgs oder Borg-Aspekte, weil sie sowohl zu autonomem Handeln fähig sind, als auch aus der Entfernung gesteuert werden können. Nimmt der menschliche Operateur mit ihnen Verbindung auf, bilden er und der Predator einen Cyborg. Vor zehn Jahren schrieb ein Freund von mir eine Kurzgeschichte, in der die Hauptfiguren, sowjetische Äquivalente der Predator-Drohnen, buchstäblich Cyborgs waren: kleine Kampfjets, die von körperlosen Hirnen gesteuert wurden. Warum sollte man sich heute jedoch die Mühe machen, so etwas zu konstruieren? (Es sei denn, um jemandem das Fliegen zu ermöglichen, der sonst nicht in der Lage dazu wäre. Was aus meiner Sicht ein ehrenwertes Anliegen wäre.) Doch für rein militärische Zwecke sind Luftfahrzeuge ohne lebende Wesen an Bord weitaus nützlicher. Sie können Manöver mit Geschwindigkeiten ausführen, die für einen Menschen tödlich wären. Aus diesem und anderen taktischen Gründen wird die nächste Generation US-amerikanischer Kampfjets mit großer
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