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Der Stalker

Der Stalker

Titel: Der Stalker
Autoren: Tania Carver
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    1 Anfangs waren es nur Kleinigkeiten.
    Dinge, die nicht mehr an ihrem Platz standen. Ein Becher auf dem Abtropfgitter neben der Spüle, von dem sie sicher war, dass sie ihn in den Schrank gestellt hatte. Ein nasses Handtuch im Bad, das eigentlich trocken hätte sein müssen.
    Kleinigkeiten.
    Verwirrend. Vielleicht sogar beunruhigend.
    Aber nicht schlimm genug, um sich Sorgen zu machen.
    Hätte Suzanne Perry geahnt, wie weit es gehen, in was für einen Alptraum ihr Leben sich verwandeln würde, hätte sie sich sehr wohl Sorgen gemacht. Mehr als das: Sie wäre so schnell und so weit gerannt, wie sie nur gekonnt hätte.
    Suzanne war sechsundzwanzig Jahre alt. Sie lebte allein in einer kleinen Wohnung in der Maldon Road in Colchester und arbeitete als Logopädin im städtischen Krankenhaus. Ein paar Monate zuvor hatte sie sich von ihrem Freund getrennt. Seitdem war sie zwar hin und wieder mit Männern ausgegangen, suchte aber nicht nach etwas Festem.
    Im Moment wollte sie einfach nur das Leben genießen.
    Einmal die Woche ging Suzanne abends mit ihren Freundinnen weg, zuerst in ein paar Bars in der Stadt, danach vielleicht noch in einen Club. Sie tanzte gern. Sie hörte die Musik, die gerade populär war. In ihrem Wagen liefen Little Boots und Lady Gaga, deren Songtexte Suzanne beim Fahren mitsang. Sie mochte Filme, besonders Komödien. Und essen gehen – wenn sie es sich leisten konnte. An manchen Abenden wünschte sie sich, sie hätte einen Freund, an anderen konnte sie sich nichts Schöneres vorstellen, als sich ganz allein mit einem kitschigen Frauenroman, einer Tafel Schokolade und einem Glas Weißwein aufs Sofa zu kuscheln.
    Sie war attraktiv und freundlich, und ihrer Meinung nach hatte sie absolut nichts Besonderes an sich.
    Aber irgendjemand sah das anders.
    Irgendjemand fand, dass Suzanne Perry etwas sehr Besonderes an sich hatte.
    Der Alptraum begann Anfang Juni. Suzanne lag in ihrem Bett und schlief. Die Türen waren verschlossen, die Fenster verriegelt. Sie fühlte sich sicher.
    Sie irrte sich.
    Die dicken schweren Vorhänge vor dem Fenster waren zugezogen, die hölzernen Jalousien waren geschlossen, wie jeden Abend. Suzanne hatte schon als Kind einen leichten Schlaf gehabt und brauchte nachts absolute Dunkelheit und Ruhe. Ihr Schlafzimmer war wie ein Isolationstank, und genau so gefiel es ihr.
    Aber in dieser Nacht war etwas anders. Die Dunkelheit war anders. Nicht tröstend und warm, sondern kalt und schwer, als wäre etwas Fremdes in ihren schützenden Kokon eingedrungen. Sie wusste nicht, ob sie träumte oder wachte. Das Zimmer, in dem sie lag, war ihr Zimmer, aber gleichzeitig war es auch nicht ihr Zimmer.
    Sie lag auf dem Rücken, den Kopf auf mehrere Kissen gebettet, und starrte mit weit aufgerissenen Augen in die alptraumhafte Dunkelheit mit ihren tiefen, dumpfen Schatten empor, wo große bedrohliche Schemen auszumachen waren. Sie blinzelte und versuchte, sich zu bewegen. Es gelang ihr nicht. Sie blinzelte erneut. Ihr Kopf, angefüllt mit imaginären Schreien und Flüsterstimmen, pochte wie verrückt.
    Ein Schatten löste sich aus der Dunkelheit und kam auf sie zu. Ihr Herz begann zu rasen. Sie versuchte, sich auf die Seite zu drehen, von ihm wegzukriechen. Es ging nicht. Ihr Körper wollte ihr nicht gehorchen.
    Ganz langsam nahm der Schatten Form an. Eine Gestalt löste sich aus der Schwärze. Es war eine menschliche Gestalt, massig, mit zwei großen Augen, die so hell leuchteten wie Autoscheinwerfer. Suzanne versuchte, sich vor dem blendenden Licht zu schützen, aber sie konnte den Arm nicht bewegen. Sie kniff die Augen zu. Der Schatten kam näher. Suzanne machte die Augen nicht auf, obwohl ihr Herz nur so hämmerte. Ihr Gehirn setzte einen Befehl an ihren Mund ab: öffnen, schreien . Nichts geschah.
    Sie ließ die Lider fest zugekniffen und versuchte, nicht zu atmen. Tat so, als wäre sie gar nicht da. Versuchte, sich zum Aufwachen zu zwingen.
    Vergeblich.
    Sie öffnete die Augen. Das Traumzimmer drehte sich um sie wie ein pechschwarzes Kaleidoskop. Allmählich wurde alles schärfer, und sie sah den Schatten direkt neben sich, seine leuchtenden Augen seitlich an ihrem Kopf. Sie konnte seinen Traumatem auf ihrer Traumwange fühlen.
    Sie schloss die Augen wieder und versuchte, die Lippen zu bewegen, während ein einziger Satz wie eine Beschwörungsformel in ihrem Kopf kreiste: Es ist nur ein Traum … es ist nur ein Traum … es ist nur ein Traum …
    Dann begann der Schatten zu sprechen.
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