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Schwartz, S: Blutseelen 2: Aurelius

Schwartz, S: Blutseelen 2: Aurelius

Titel: Schwartz, S: Blutseelen 2: Aurelius
Autoren: Unbekannt
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W EIßER B ERG, VOR DEN T OREN P RAGS , 8. N OVEMBER 1620
    Als er erwachte, erwachten auch die Schmerzen. Feuer brannte in seiner angeschossenen Schulter, wütete in seinem Fleisch, verzehrte Muskeln und Sehnen. Benommen öffnete er seine grüngoldenen Augen und starrte in einen milchig weißen Himmel. Schneeflocken rieselten herab, setzten sich auf seine Uniform und mischten sich mit Blut. Er hörte die Schreie Sterbender und das Grölen der Sieger. Irgendwo in seiner Nähe lallte ein betrunkener Soldat: „Santa Maria, oh Santa Maria, dein ist der Sieg.“
    Aurelius spürte die Kälte in seinen Armen und Beinen. Er fragte sich, ob er je einen Winter erlebt hatte, in dem er nicht fror. Es war, als habe die Kirche beider Konfessionen recht behalten, als wolle Gott seine verirrten Schäfchen strafen und ihnen den eisigen Atem einer zweiten Hölle senden, in der der Teufel auf einem Thron aus Eis saß. Vielleicht gerade deshalb, weil sie sich in Katholiken und Protestanten geteilt hatten und in seinem Namen Krieg führten.
    Seine Gedanken schweiften ab. Er wusste, dass es am Blutverlust lag, an dem beständigen Strom, der aus ihm floss und ihn schwächte.
    Vorsichtig drehte er den Kopf zu dem singenden Soldaten hin, der zwischen Leichen und Verwundeten spazierte und seine Gabelmuskete im Takt des Liedes schwang. Seine Kleidung war vom Schnee bedeckt. Er war der Sieger, und er tat, was Sieger taten: Er bückte sich und nahm den Gefallenen aus den Taschen, was er brauchen konnte. Eben beugte er sich über einen, der noch lebte und aufschrie, als die Gabelmuskete gegen seinen Kopf schlug.
    Bedrich, erkannte Aurelius blinzelnd, ein Landsknecht aus seinem Haufen. Er hatte eine Frau und drei Kinder.
    Weitere Sieger eilten herbei, packten den noch stöhnenden Bedrich und zerrten ihn auf die Füße. Sie schleppten ihn zu einem Baum, an dem sie alle überlebenden Verlierer in der Nähe aufhängten. Der Baum war gespickt mit Menschen. Wie übergroße Früchte hingen sie an Stricken in den Ästen, während der Schnee den Weißen Berg samt den toten Körpern mit einem Leichentuch zudeckte. Die Soldaten lachten, als Bedrich schrie, sich wehrte und schließlich doch seinen Platz am Baum fand und verstummte.
    Aurelius unterdrückte ein Würgen.
    Was Friedrich in diesem Augenblick wohl machte? War sein König auf der Flucht, weil sie den Berg trotz der guten strategischen Lage nicht hatten halten können? Sie waren in der Unterzahl gewesen, hatten Hunger gelitten und waren geschwankt, als die Kavallerie mit trommelnden Hufen den Tod brachte. Wut stieg in ihm auf und dämpfte die Schmerzen.
    Was interessierte es ihn, was der böhmische König mit dessen blaublütigen Hinterteil anstellte? Sein Leben war in Gefahr, nicht das seines Herrn. Er musste fort.
    Aber wie? Sobald er sich regte, würden die Soldaten der katholischen Liga auf ihn aufmerksam werden und ihn neben Bedrich an den Baum hängen. Wehren konnte er sich nicht. Seine Pike hatte er verloren, und der Dolch war nicht geeignet, sich den Weg freizukämpfen.
    Er verhielt sich still und hoffte, zwischen den Leichen nicht aufzufallen. Wie hoch waren ihre Verluste? Viertausend Mann? Sechstausend? Würde auch er bald zu den Gefallenen zählen?
    Die Soldaten, die Bedrich gehängt hatten, suchten nach weiteren Opfern. Sie kamen auf ihn zu. Einen erschreckenden Moment lang glaubte er, den Gedanken des Mannes erfassen zu können, der an seine Seite trat. Es war, als spüre er dessen unbändige Freude darüber, am Leben zu sein und dem großen Feldherrn und Grafen von Buquoy diesen Sieg zu schenken. Er zitterte. Wie konnte das sein? Menschen waren nicht in der Lage, Gedanken zu lesen oder fremde Gefühle zu spüren. Zumindest keine Menschen, die nicht mit dem Teufel im Bund waren.
    Er hatte das schon früher erlebt, erinnerte er sich, und tief in ihm erklang eine zweite Stimme, die immer da war, wenn sein Leben bedroht wurde:
Ganz ruhig. Ich helfe dir. Halt still und lass alles über dich ergehen
.
    Ein Schleier legte sich über seinen Verstand. Ihm war, als könne er die Szene auf dem Weißen Berg von oben betrachten, wie ein Falke, der unter den Wolken dahinglitt und auf die Flanke des Berges hinabsah: Da lag ein Soldat in der von Schnee weißen Gewandung mit der Binde der böhmischen Protestanten – er war es selbst, es war sein Körper –, und vier Soldaten der Liga traten auf ihn zu. Der Vorderste zerrte an seinen bernsteinfarbenen Haaren und trat ihm mit voller Wucht den
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