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Kohl, Walter

Kohl, Walter

Titel: Kohl, Walter
Autoren: Leben oder gelebt werden
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erklären, was Terrorismus ist und
warum unsere Familie davon bedroht wurde. Für ein siebenjähriges Kind war da
nicht viel zu begreifen, außer dass dieser Terrorismus Folgen für sein eigenes
Leben hatte, die mit Händen zu greifen waren. Die allgemeine Anspannung spürte
ich deutlich, obwohl von allen Seiten Beschwichtigungen ausgereicht wurden.
Allmählich begann ich einen Widerspruch zu erahnen, der in den Aussagen der
Erwachsenen, auch meiner Eltern, lag. Ich fühlte, dass mir nicht die volle
Wahrheit gesagt wurde.
    Offenbar
kaufte ich es ihnen aber doch ab, dass die Lage gar nicht so schlimm sei. Oder
hatte ich alles missverstanden? Vielleicht wollte ich auch nur herausfinden, ob
alles wirklich ernst gemeint war. Jedenfalls machte ich mir eines Tages einen
Spaß daraus, meinem Beschützer zu entwischen. Das Terrain kannte ich
vorzüglich, im Gegensatz zu ihm. In der Mauer des St. Marienkrankenhauses, das
auf dem Weg zur Grundschule lag, gab es eine enge Spalte. Da gelangte ein Kind leicht
hindurch, ein erwachsener Mann nicht. Nachdem ich ein paar Tage ganz brav
mitgegangen war, dabei aber die Lage gepeilt hatte, raste ich plötzlich los.
Schwupps, schon war ich durch die Spalte hindurch! So schnell ich konnte rannte
ich durch den Schwesterngarten. Dabei stellte ich mir voll diebischen
Vergnügens das verdutzte Gesicht meines Aufpassers vor. Schon erreichte ich an
der anderen Seite des Gartens eine niedrige Mauer, die leicht zu überwinden
war. In dem angrenzenden kleinen Park, direkt neben dem Schulgelände, befand
ich mich schon in unmittelbarer Nähe meines Klassenzimmers. Geschafft!
    Polizei
abgehängt und trotzdem rechtzeitig in der Schule, wenn das nichts ist...
    Natürlich
währte die Freude nicht lange. Schon am Mittag desselben Tages brach das
Donnerwetter meiner Mutter über mich herein. Ich spürte ihre Betroffenheit,
verstand auf einmal, dass sie sich tatsächlich schwere Sorgen um mich machte.
Plötzlich bekam ich ein ganz neues Gefühl für die Gefahr. Wenn meine Mutter so
voller Furcht war, dann musste es ja wirklich gefährlich für uns sein, so meine
kindliche Analyse. Mein Übermut hatte Folgen: Von nun an wurden mir gleich
mehrere Beamte mitgegeben. Und ich musste stets vorneweg laufen, sodass sie
mich auch ja im Auge behielten. Vorn lief Walter, und wenige Meter hinter ihm
zwei, manchmal sogar drei erwachsene Männer - eine Eskorte dieses Kalibers fiel
auf wie ein Trupp Marsmännchen. »Abhauen« war nun nicht mehr. Innerhalb weniger
Tage wusste die ganze Nachbarschaft davon, und fast jede Gardine hinter jedem
Fenster, an dem wir vorbeiparadierten, geriet in Bewegung. Wenn ich meinen
Schritt beschleunigte, taten meine Beschützer es auch. Wenn ich ihn verschleppte,
dann sie ebenfalls. Blieb ich stehen, hielten auch sie an. Das glich wohl weit
mehr einem grotesken Tanz als einer diskreten Begleitung. Ich empfand dabei ein
so intensives Gefühl von Peinlichkeit, wie ich es noch nie zuvor erlebt hatte.
    Am
Schultor wurde ich aus der Bewachung entlassen. Meine dortige Ankunft geriet
nun regelmäßig zum Spektakel, zumindest für bestimmte Mitschüler. Sie
begrüßten mich sogleich mit Hänseleien, manche gefielen sich darin,
auszutesten, ob die abziehenden Polizisten wohl umkehren würden, wenn sie mir
Fausthiebe auf die Oberarme versetzten oder mich mit dem Ellbogen in die Rippen
knufften. Fast jeden Morgen erwartete man mich mit dieser Art des Willkommens.
Es war wie ein Spießrutenlaufen, bis ich mein Klassenzimmer erreicht hatte.
Übrigens kehrten die Polizisten nie um. Und wenn sie umgekehrt wären - ich
hätte sie wahrscheinlich nur angefahren, dass sie sich endlich verziehen
sollen.
    Es war das
erste Mal, dass mir eine tief greifende innere Widersprüchlichkeit der
Lebenswelt meiner Kindheit buchstäblich unter die Haut ging: Gegenüber einer
Gefahr, die für mein kindliches Gemüt in ungreifbarer Ferne lag, wurde ich mit
massivem Aufwand abgeschirmt. Mit der Gefahr jedoch, die mich tagtäglich, sogar
körperlich fühlbar, umgab, wurde ich alleingelassen. Vor der Gewalt der
Terroristen war ich beschützt, der Gewalt meiner Mitschüler aber schutzlos
ausgeliefert. Ich hatte keine Angst, entführt zu werden, was ich vielmehr
fürchten lernte, war die Qual, die mir die spezielle Behandlung meiner Person
bereitete. Nicht der Terrorismus erschien mir somit als mein ärgster Feind,
sondern der Schutz davor, mit dem ich zwangsbeglückt wurde. Der Terror meiner
Situation war es, wie mit einem
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