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Der Schiffsjunge der Santa Maria

Der Schiffsjunge der Santa Maria

Titel: Der Schiffsjunge der Santa Maria
Autoren: Frank Schwieger
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Nichts wie weg!
    Luis wusste nicht, wo er war. Er hatte tief geschlafen und wunderbar geträumt. Von Zipangu, dem sagenhaften Land im Fernen Osten. Von Löwen, von Tigern und Elefanten. Und vom großen Kublai Khan, dessen gewaltiger Palast mit Edelsteinen verziert und mit goldenen Schindeln gedeckt war. Sie standen im Thronsaal. Die Wände hier waren über und über mit leuchtenden Rubinen geschmückt. Vor ihnen saß der große Khan auf seinem Thron aus Elfenbein und lächelte sie gütig an.
    »Hattet ihr eine gute Reise?«
    Luis traute sich nicht zu antworten.
    »Ja, edler Herrscher«, sagte sein Vater, der neben ihm stand und seine Hand hielt. »Unser Schiff hat heute Morgen in Eurem Hafen angelegt. Wir haben Euch ein Geschenk mitgebracht.«
    Luis’ Vater verbeugte sich und streckte dem Khan eben ein hölzernes Kästchen entgegen, als eine knarrende Stimme den ganzen Traumpalast zerplatzen ließ wie eine Seifenblase. Luis fuhr zusammen undschnellte in die Höhe. Wo war er? Er brauchte einen Moment, um sich zurechtzufinden.
    Vor ihm stand der dicke Rodrigo, die Hände in die ausladenden Hüften gestemmt, und knurrte ihn wütend an: »Bist du eingeschlafen? Ja, wo gibt’s denn so was? An die Arbeit mit dir! Die Fässer müssen in den Keller gebracht werden. Und hier hast du auch noch nicht sauber gemacht.«
    Luis schaute sich in der schmuddeligen Schankstube um. Die Gäste der letzten Nacht hatten wieder jede Menge Dreck hinterlassen. In einem Schweinestall sah es sauberer aus. Luis erinnerte sich. Er hatte die Stühle hochgestellt und den Besen holen wollen, als Rodrigo das Haus verlassen hatte, um zum Weinhändler zu gehen. Luis hatte die Chance genutzt, sich an irgendeinen Tisch gesetzt, den Kopf auf die klebrige Tischplatte gelegt und war sofort eingeschlafen. Kein Wunder, dass er müde war. Er hatte in der Nacht zuvor gerade mal zwei Stunden geschlafen, weil er bis zum Morgengrauen in der Schänke mitgeholfen hatte. Wie fast jede Nacht. Und dann hatte der dicke Rodrigo ihn um sechs Uhr früh aus dem Bett gezerrt, in die Schankstube geschleppt und ihm aufgetragen, diese blitzeblank zu putzen, vom Fußboden bis zur Decke.
    »Was glotzt du so dämlich?«, blökte Rodrigo und hob drohend die Hand. Im letzten Moment konnte Luis sich unter dem Schlag hinwegducken. Das gelang ihm nur selten, denn meistens traf Rodrigo besser. Wahrscheinlich war er noch zu betrunken. Luis sprang vom Stuhl, Rodrigo packte ihn am Kragen, Luis schlug um sich, biss dem Dicken in die Hand, Rodrigo schrie auf und ließ Luis los. Als er durch die offene Tür hinausrannte, hörte Luis noch die kreischende Stimme Juanas, die wohl aus der Küche gekommen war: »Was ist hier los? Hat der Junge wieder Ärger gemacht?«
    Luis rannte und rannte. In seinem Kopf hämmerte nur ein einziger Gedanke: »Ich will weg! Weg, weg, weg von hier!« Tränen kullerten über seine Wangen. Er lief hinunter zum Hafen, der nur ein paar Straßen entfernt war von der Kneipe, die seine Stiefmutter Juana und der dicke Rodrigo betrieben. Die Tränen kühlten sein Gesicht. Schwer atmend schaute er sich um.
    Hier herrschte schon zu dieser frühen Stunde reger Betrieb. Starke Männer trugen Kisten und Fässer über Planken auf die Schiffe hinauf oder von ihnen herunter. Einige pfiffen oder sangen ein Lied, die meisten schnauften und schwitzten unter der schwerenLast. Überall kreisten und kreischten hungrige Möwen. Es roch nach Teer und nach Schweiß, nach Seetang und nach Salz, nach fernen Ufern und nach der großen weiten Welt.
    Palos war zwar nur eine kleine Hafenstadt, bei Weitem nicht so bedeutsam wie Cádiz oder gar Valencia. Aber auch von hier aus fuhren Schiffe nach Guinea im heißen Afrika, nach Schottland im kühlen Norden, nach Griechenland oder nach Ägypten.
    Luis wischte sich mit dem Ärmel die Tränen aus dem Gesicht. »Ich gehe nicht zurück«, sagte er zu sich selbst. »Nie mehr! Nicht in dieses Haus! Nicht zu Juana und Rodrigo!«
    An seine leibliche Mutter konnte Luis sich nicht erinnern. Sie war gestorben, als er zwei Jahre alt war. Bald darauf hatte sein Vater ein zweites Mal geheiratet, Juana, seine Stiefmutter. Seit fast neun Jahren lebte Luis nun unter ihrer Fuchtel. Gut, sie hatte ihn nur selten geschlagen, das musste er zugeben. Und gehungert hatte er auch nicht oft. Trotzdem hatte Juana ihn behandelt wie einen zugelaufenen Straßenköter, den sie am liebsten mit dem Besen aus dem Haus gejagt hätte. Sie hatte sich zurückgehalten, solange Luis’
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