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Kohl, Walter

Kohl, Walter

Titel: Kohl, Walter
Autoren: Leben oder gelebt werden
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unerhört, deshalb machte er mir die heftigsten Vorwürfe. Für ihn
stellte und stellt es sich wohl so dar, dass ich ihn verraten habe, indem ich
öffentlich sprach. Wenn es noch eines weiteren Anlasses bedurft hätte, dann war
er jetzt gegeben: Ich durfte kein Kohlianer mehr sein. Die Würfel waren
gefallen.
    Und nun?
Was sollte werden? Wie würde ich mit dieser Entwicklung umgehen? Wieder einmal
bewies sich für mich, dass Versöhnung helfen kann, auch wenn der Weg dorthin
verschlungen erscheint. Ich beschloss, ein Buch zu schreiben und meine eigene
Klarheit zu finden. Dass ich dann zwangsläufig öffentlich zu unserer Situation
Stellung nehmen würde, wurde zur logischen Konsequenz meiner Öffnung, denn sie
hatte auf der gleichen Bühne stattzufinden wie die zuvor erfahrenen
Verletzungen. Durch das Schreiben zwang ich mich zur Ehrlichkeit mir selbst
gegenüber, und ich öffnete mich gegenüber meinem alten Zorn.
    Durch das
Schreiben begann ich, meinen langjährigen Irrtum zu akzeptieren, dass ich
Ansprüche an meinen Vater anzumelden hätte. Heute glaube ich, dass es keinen
anhaltenden Anspruch auf einen Vater gibt. Ein Kind kann sich einen Vater
wünschen, doch es kann keine Ansprüche emotionaler Art einklagen. Hier ist das
Leben grausam. Nach meines Vaters eigenem Verständnis hat er sich um uns
Kinder ausreichend gekümmert. Er glaubt, dass er seine väterliche Pflicht
erfüllt hat. Er hat ein Haus mitgebaut und unsere Ausbildung finanziert. Er hat
seiner Frau, unserer Mutter, freie Hand in den allermeisten Familiendingen
gegeben. Sie war Herz und Seele unserer Familie, nach ihrem Tod hielt diese
Klammer nicht mehr. Unter Beachtung der öffentlichen Schamfrist verabschiedete
sich dann mein Vater in sein neues Leben.
    Als
erwachsener Mensch bin ich für mein eigenes Glück verantwortlich. Ob mit oder
ohne Vater, das ist letztlich egal. Denn es geht nicht um meinen Vater, es geht
um mich. Wenn er seinen Weg ohne mich gehen will, so muss ich einen für mich
stimmigen Weg ohne ihn finden. Ich bin gut beraten, seine Entscheidung zu akzeptieren
und nicht weiter darunter zu leiden. Jedes Leiden verschlimmert nur meine Lage,
denn er wird seine Haltung nicht ändern, und ich leide unnötig weiter.
    Gelingt es
mir, glücklich zu werden, obwohl meine Mutter tot ist und mein Vater sich in
dieser besonderen Weise von mir verabschiedet hat? Gelingt es mir,
gleichzeitig der Souverän über mein eigenes Leben und der »Sohn vom Kohl« zu
sein, der ich für die Öffentlichkeit immer bleiben werde?
    Die erste
Frage muss ich mir jeden Tag in meinem eigenen Leben erneut stellen. Ich
glaube, die Antwort lautet Ja.
    Die zweite
Frage versuche ich auf einer grundsätzlichen Ebene in Form dieses Buches
anzugehen. Ich will ehrlich sein, aber nicht verletzend. Ich will die Karten
auf den Tisch legen, aber nicht nachkarten. Wenn, wie in diesem Fall, die
Versöhnungsarbeit nur einseitig geleistet werden kann, so soll sie trotzdem
ernsthaft und überzeugend sein. Dadurch wird dieses Buch und seine
Auseinandersetzung mit dem »Sohn vom Kohl« mein Rüstzeug für diesen
Versöhnungsweg.
    Heute gehe
ich weit entspannter mit dem Thema »Sohn vom Kohl« in der Öffentlichkeit um als
jemals zuvor in meinem Leben, und das bedeutet einen großen Gewinn an Lebensfreude
und Freiheit. Heute kann ich meinen Vater so akzeptieren, wie er ist. Auf
diesem Fundament innerer Akzeptanz habe ich meinen Frieden mit ihm gemacht. Er
war nie ein Vater wie andere Väter, er war immer ein Sonderfall. Aber alles
Vergleichen, sämtliche daraus von mir abgeleiteten Ansprüche waren unsinnig.
Meine alten Sichten führten mich nur ins Opferland, und wie schwierig es für
mich war, dort wieder herauszukommen, dürfte deutlich geworden sein.
    Ja, es war
ein schwerer Weg für mich, einen so ungewöhnlichen Menschen wie ihn als Vater
zu akzeptieren. Jeder Mensch kommt mit einem Rucksack auf die Welt, mit einer Bürde,
an der er vielleicht sogar lebenslang zu tragen hat. Meine Bürde ist meine
Herkunft, ist mein Name. Viel zu lange habe ich versucht, mein Leben in
Richtung meines inneren Ideals hinzubiegen, mich in etwas hineinzuträumen, was
doch nicht in meiner Macht stand, was nie realistisch war. Dabei habe ich
Enttäuschungen erlebt und Menschen verletzt, nicht zuletzt auch meinen Vater.
Aber er ist mein Vater, und ich werde nie einen anderen Vater haben können oder
wollen. Als sein Sohn bleibe ich ihm, trotz Trennung, immer verbunden.
    Ich bin
überzeugt, dass er sich
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