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Kohl, Walter

Kohl, Walter

Titel: Kohl, Walter
Autoren: Leben oder gelebt werden
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mich an die Grenzen meiner psychischen Möglichkeiten
getrieben. Aber um diese Grenzen letztlich zu überwinden, musste ich zur
Selbstbestimmung finden. Dieser erste Schultag folgte einem unsichtbaren
Drehbuch, er lieferte den Plot eines Stückes, zu dem sich der Vorhang auf unterschiedlichsten
Bühnen hob. Meine eigene Rolle darin hat etwas Kurioses: Nebenrolle und
Hauptrolle zugleich. Auch wenn ich ein ganz gewöhnliches Leben führe, mit einem
ausgesprochen unspektakulären Alltag, bin ich doch für viele meiner
Mitmenschen Normalmensch und Exot zugleich. Nicht das, was ich selbst tat,
sondern das, was eine andere Person zu tun oder zu lassen beliebte, wurde nun
für so gut wie jede meiner Begegnungen mit anderen Menschen ausschlaggebend.
Das erschien mir zunächst rätselhaft, später grotesk und, in seiner
schicksalhaften Unvermeidlichkeit, geradezu verhängnisvoll.
    Damals,
als sechsjähriges Kind, fühlte ich mich nur tief verletzt, aufs Äußerste
herabgewürdigt, schwer getroffen. Die erste Ursache dafür lag vollständig
außerhalb meines eigenen Aktionsradius, so viel verstand ich sofort. Sehr bald
war mir klar, dass die Angriffe nicht mir, sondern einer Person galten, die mir
mit am nächsten stand. Aber ich verstand nicht, warum manche Menschen ihre
offenkundige Abneigung gegen ihn auf mich übertrugen. Mein Vater war für mich
selbst nur mein Vater und kein Politiker, ging das nicht in den Kopf dieser
Menschen hinein? Von Anfang an wehrte ich mich gegen diese absurde
Übertragung, dagegen, in Mithaftung genommen zu werden. Ich begann mit dem
Schicksal zu hadern, schon sehr früh im Leben. Ich fühlte mich als Opfer, auch
dann noch, wenn ich selbst den ersten Stein hob.
    Ja,
irgendwann begann ich selbst zuzuschlagen. Ich sah es stets als ein
Zurückschlagen und nahm mich vor meinem eigenen Gewissen in Schutz, wenn ich,
statt einfach aus dem Felde zu gehen, den Kampf annahm. Hatte ich nicht genügend
Gründe dafür? Ich sah mich alleingelassen mit einer Situation, die ich als
widernatürlich empfand, die mich aber immer wieder einholte. Da ich keinen
anderen Weg kannte und mir niemand wirklich zuhören wollte, wenn ich darüber zu
reden versuchte, begann ich Gewalt mit Gewalt zu vergelten. Ich wurde zum
Kämpfer, zum inneren Krieger. Schon damals, an meinem ersten Schultag, hatte
ich mich auf diesen Weg begeben. Ohne die leiseste Ahnung davon, dass ich somit
begann, an einer Spirale unbewussten psychischen Missbrauchs selbst auch noch
mitzudrehen.
    Eine Frage
steht am Anfang aller Fragen, die über das Lebensnotwendige, das Alltägliche,
die über die »Frage des Tages« hinausweisen. Wer bin ich?
    Dies ist
für mich keine rein philosophische Frage. Dies wurde für mich zu einer
lebenswichtigen, ja, ich muss gestehen, in einer bestimmten Situation sogar zu
einer überlebenswichtigen Frage. Doch davon später.
    Auf der
Bühne meiner Existenz spielte sich fortan ein kleines Drama ab. Während jeder
weiteren Etappe meiner persönlichen Entwicklung - ob als Schüler, als Soldat,
als Student oder als Berufstätiger -, immer wieder fand sich eine unsichtbare
Regieanweisung, die mein Leben so steuerte, dass mich die Frage aller Fragen
mit roboterhafter Präzision immer wieder einholte: Wer bin
ich?
    Bisweilen
kippte das Drama ins Melodram ab. Dann spielte ich vor mir selbst und anderen
den »Sohn vom Kohl« ganz bewusst, mit einer ans Zynische grenzenden,
selbstzerstörerischen Lust. Nur wer ständig angestarrt wird, mit Blicken wie
Röntgenstrahlen, wer neugierig angefasst wird wie ein fremdartiges Geschöpf,
der kann nachvollziehen, was das bedeutet. Mit aller Macht versuchte ich mir zu
vergegenwärtigen, dass nicht ich selbst, sondern eigentlich mein Vater gemeint
war. Es gelang selten, und wenn, dann war es nur ein schwacher Trost. Unter dem
Strich lief es auf ein und dasselbe hinaus: Walter Kohl, den gibt es hier jetzt
gar nicht. Wer immer ihn verschämt beäugt, wer immer ihn offen herausfordert,
der meint eigentlich den »Sohn vom Kohl«.
    Die
Erfahrung infiltrierte alle Bereiche meines Lebens, bis in den hintersten
Winkel. Sobald ich neue Bekanntschaften machte, sobald ich in ein anderes
Umfeld wechselte, musste ich mit dem Thema stets wieder ganz von vorn anfangen.
Ich begann automatisch, mein Leben danach auszurichten, kooperierte mit dem
unsichtbaren Regisseur. Ich unterwarf mich seinem Diktat, folgte dabei doch nur
meinen Gefühlen der Ohnmacht, der Einsamkeit und der Überforderung. Immer
wieder gab
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