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Kohl, Walter

Kohl, Walter

Titel: Kohl, Walter
Autoren: Leben oder gelebt werden
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Dinge in andere Städte
zu bringen, welche die Menschen dort brauchten.
    Dennoch
hatte ich, wie schon gesagt, überhaupt nicht das Gefühl, es könnte irgendwann
zum Problem für mich werden, was mein Vater beruflich machte. Auch mein anderer
Freund aus dem Haus hinter unserem Garten hatte einen Vater, der meistens
abwesend war. Er wusste ebenfalls nicht so recht, was dieser beruflich tat,
eigentlich nur, dass er für ein großes Ludwigshafener Unternehmen in Mittelamerika
weilte. So schien uns allen eines völlig klar und absolut normal zu sein: Väter
sind meistens weg, sie machen irgendwas, das die Familie ernährt, und die
Mütter bestimmen mit ihren Geboten und Verboten, aber auch mit ihrer Liebe und
ihrer Fürsorge unser kindliches Leben. Mit einem Wort: Unsere Kinderwelt war
wohlbehütet, sie hatte ihre feste, allseits akzeptierte Ordnung und bot alle
Möglichkeiten, die wir zur Entfaltung unseres Spiel- und Bewegungsdranges
brauchten. Begrenzt auf eine Fläche von etwa 150 mal 50 Meter, war sie wie ein
kleiner Stern für sich. Sie war wunderschön, sie war geschützt und sicher.
Alles in dieser Welt war berechenbar und von einer intensiven Heimeligkeit. Ich
hatte nicht die leiseste Ahnung davon, was mich jenseits ihrer engen Grenzen erwartete.
    Im Sommer
1969 wurde ich in die erste Klasse der Grundschule in Ludwigshafen-Gartenstadt
eingeschult. Wenige Monate zuvor war Helmut Kohl zum Ministerpräsidenten von Rheinland-Pfalz
gewählt worden. Zwei Ereignisse, die in keinerlei Zusammenhang miteinander
standen, außer für mich selbst. Es fühlte sich an, als wenn eine Tür ruckartig
aufgerissen würde und ein kalter, ein sehr kalter Wind mir urplötzlich um die
Ohren pfiff.
    Ich
erinnere mich, dass es an meinem ersten Schultag morgens heftig regnete. Meine
große Schultüte war schon etwas aufgeweicht, als Mutter und ich das
Schulgebäude betraten; mein Vater hatte keine Zeit an diesem Morgen. Es folgte,
was jeder kennt: Begrüßung der »ABC-Schützen«, wie es damals nach alter Väter Sitte
noch hieß, durch den Rektor, dann die Verabschiedung der Eltern und schließlich
die Übergabe von uns Kindern an die Lehrerin. Bald klingelte es zur ersten Pause.
Nun sollte ich etwas kennenlernen, was nur mir und meinem Bruder beschieden
ist: ein Leben als »Sohn vom Kohl«.
    Der
Schulhof war voller Kinder. Ich kannte keinen Einzigen, während sich alle
anderen zu kennen schienen. Es gab sehr wohl Gleichaltrige aus unserer Straße
in meiner Klasse, doch sie kamen aus den »Blocks«, wie es bei uns zu Hause
hieß. Diese standen nur ein paar hundert Meter weit weg, doch es war eine mir
unbekannte Zone, die eine dunkle Faszination auf mich ausübte. Nie hätte ich
mich entgegen dem strengen Verbot unserer Mutter dorthin gewagt. Eine Folgsamkeit
mit gewissen Konsequenzen, denn meine beiden Freunde waren als Jüngere nicht
mit mir eingeschult worden, und mein jüngerer Bruder sollte erst in zwei Jahren
folgen. Ich war allein. Die Kinder aus den »Blocks« dagegen traten als
geschlossene Gruppe auf, und es sollte mir sogleich klar werden, was das für
mich bedeutete.
    Schon in
der ersten Pause ging es los. Als Erstes spürte ich die neugierigen,
herausfordernden Blicke auf mir liegen. Ein seltsames Gefühl, das sich im Lauf
der Jahre zu einem festen Bestandteil meiner Empfindungswelt entwickeln sollte.
Jeder verspürt hin und wieder den Drang, sich umzusehen, weil er sich
beobachtet fühlt. Anschließend geht er wieder zur Tagesordnung über. Für mich
aber wurde dieses unangenehme Gefühl ab jetzt zum ständigen Begleiter. Später
nannte ich das den »Zooeffekt«: mit distanzierter Neugier wie ein exotisches
Tier beäugt und aus der Position gefühlter Überlegenheit heraus mit
launig-ätzenden bis beleidigenden Kommentaren bedacht zu werden.
    Mein
erster Schultag geriet zu etwas, das man wohl ein Schlüsselerlebnis nennt. Die
abfälligen Bemerkungen Sechsjähriger über einen Politiker sind naturgemäß nur
ein Abklatsch der Reden ihrer Eltern. Doch das war eine Tatsache, die nicht
innerhalb meines eigenen kindlichen Bewusstseinshorizontes verankert war. Ich
war zutiefst verletzt, weil wildfremde Menschen, Kinder wie ich selbst noch,
mich und meine Familie schmähten. Ich war total verwirrt, weil ich nicht
verstand, warum. Angegriffen zu werden für etwas, das vollständig außerhalb
meines eigenen Verantwortungsbereichs lag - das widersprach in allen Punkten
meinem Gerechtigkeitsgefühl. Zum ersten Mal stieg in mir etwas
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