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Kohl, Walter

Kohl, Walter

Titel: Kohl, Walter
Autoren: Leben oder gelebt werden
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geführt, dass ich mich selbst
betrog. Dass ich mich vor der eigenen Verantwortung für mein Leben drückte,
dass ich zu einer Hülle ohne Inhalt geworden war, dass die Fremdsteuerung von
mir Besitz ergriffen hatte.
    Die
Ereignisse der vergangenen Wochen hatten meinen alten Überzeugungen den Boden
entzogen. Binnen weniger Minuten zwischen halb acht und halb neun Uhr morgens
an jenem brütend heißen Julitag 2001 war alles anders geworden. Mit einem Mal
und unwiderruflich war klar:
    Dieses
Leben, dein Leben, das ist ganz bestimmt nicht schön. Es ist eine Farce! Du
bist ein Abziehbild der Vorstellungen und Erwartungen anderer Menschen. Du
bist alles andere als dein eigener Herr.
    In dieser
Stunde begannen meine faulen Kompromisse, meine mantrahaften, bis zur
Perfektion eingeübten Entschuldigungen vor mir selbst zu zerbrechen. Ich
wusste zwar noch nicht, was ich tun sollte, was ich ändern müsste. Aber eines
wusste ich: Ich durfte und würde nicht mehr so weitermachen wie bisher. Ich
fühlte mit allen Fasern meines Wesens, dass eine mächtige Kraft an mir zu
ziehen und zu stoßen begonnen hatte. Eine Kraft, die mich in eine neue Richtung
drängte, auf ein Ziel hin, das mir noch gänzlich unbekannt war, wie die Wellen
den Schwimmer hinaus aufs Meer ziehen, so sehr er sich auch dagegen stemmen
mag. Die Sicht war trüb, meine Zukunft in Nebel gehüllt. Ich wusste nicht,
wohin das Leben mich führen würde, aber ich spürte, dass ich lernen musste,
mich der Strömung anzuvertrauen.
 
Der »Sohn vom Kohl«
     
    Jeder
Mensch hat eine Familie. Ein banaler Satz? Nicht für mich. Nicht, wenn man den
Namen Kohl trägt und der eigene Vater einmal für 16 Jahre der mächtigste Mann
im Lande war. Mein Vater hat das Kunststück fertiggebracht, für mich ein ferner,
kaum greifbarer Vater gewesen zu sein, und mir gleichwohl kräftig seinen
Stempel aufzudrücken. Roland Koch hat einmal sinngemäß bemerkt, dass Politik
zweimal stattfindet: erstens tagsüber, wenn regiert wird, und zweitens abends
und am Wochenende, wenn die Partei zu ihrem Recht kommen will. Im
Maschinenraum der Politik ist es immer heiß und hektisch, es heißt immer »Volle
Kraft voraus!«, wenn man an der Spitze bleiben will. Deshalb hat ein
Spitzenpolitiker sehr wenig Ruhe, er muss fortwährend der Gestalter, die
Integrationsfigur für seine Partei sein, er treibt den Ball. Ein
Spitzenpolitiker, der dieses spezielle Momentum verliert, ist zum Scheitern
verurteilt.
    Mein Vater
hatte dieses Momentum in hohem Maße. Nicht nur für ein paar Jahre, sondern
während seiner gesamten mehr als vierzigjährigen aktiven politischen Laufbahn.
Es ist unvermeidbar, dass ein solcher Lebensstil auch das Familienleben eines
Politikers prägt. Ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass die öffentliche
Tätigkeit meines Vaters bis in die letzten Bereiche des Privatlebens der
Familie Kohl spürbar war.
    Peter,
mein Bruder, und ich sahen Vater oft wochenlang nur für wenige Stunden. Und
wenn er da war, gab es unzählige Ablenkungen und »dringende Dinge«, die uns in
die Warteschleife seiner Aufmerksamkeit schickten. Dauernd klingelte das
Telefon, immer wieder fanden Termine mit Politikern, Journalisten und
Diplomaten bei uns zu Hause statt, permanent drang die Politik in die letzten
Ritzen unseres täglichen Lebens ein.
    Während
des jährlichen Familienurlaubs in St. Gilgen am Wolfgangsee habe ich
spaßeshalber einmal Buch über Vaters Termine geführt. Ich kam auf mehr als 35
fest eingeplante Termine, die jeweils mehr als eine Stunde dauerten, binnen
vier Wochen. Es besuchten ihn dort Regierungschefs, EU-Verantwortliche,
deutsche Parteipolitiker, österreichische Landeshauptleute und, sehr
regelmäßig, auch der Ortsbürgermeister. Schließlich gab es auch rund um den See
wichtige Dinge. Mit dem Bonner Büro Telefonkontakt herzustellen und zu halten,
war ein tägliches Ritual, das sich üblicherweise über mehrere Stunden
erstreckte. Hinzu kamen diverse Hintergrundgespräche mit Journalisten sowie
die obligaten Sommerinterviews mit den angehängten Fototerminen, bei denen auch
wir Kinder benötigt wurden. Das war der St. Gilgener Normalbetrieb, von
Krisensituationen nicht zu sprechen. Für Helmut Kohl ein ganz normaler
Familienurlaub.
    Der »Sohn
vom Kohl« - wie oft habe ich diese Bezeichnung gehört? Und wie oft habe ich sie
wohl nicht gehört, wenn sie hinter meinem Rücken gebraucht wurde? Im Lauf der
Jahre habe ich all ihre Bedeutungsnuancen im Geiste durchdekliniert,
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