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Die Bruderschaft des Feuers

Die Bruderschaft des Feuers

Titel: Die Bruderschaft des Feuers
Autoren: Alfredo Colitto
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PROLOG
BOLOGNA, 10. DEZEMBER 1311
    S ie begriff allmählich, dass sie nicht träumte, aber dennoch hielt sie die Augen geschlossen. Sie lag auf etwas Kaltem, Hartem. Wie war es dazu gekommen? Sie erinnerte sich an nichts mehr. Nur an einen Laut in der Nacht, aber das war vorher gewesen. Inzwischen musste es Tag sein, denn sie nahm durch die geschlossenen Lider das gedämpfte Licht der Morgendämmerung wahr.
    Sie streckte eine Hand aus, und ihr wurde klar, worauf sie lag. Abgetretene Holzbalken. Ein Boden, den sie genau kannte, weil sie ihn jeden Tag säubern musste. Dieser Gedanke zog sofort andere nach sich, und sie wusste wieder, wer sie war und wo sie sich befand. Sie musste ohnmächtig geworden sein, doch sie konnte sich immer noch nicht an den Grund dafür erinnern.
    Sie bewegte ihre Füße, die Beine, legte die Hände ans Gesicht und ergriff so wieder Besitz von ihrem Körper, der ihr für unbestimmte Zeit genommen worden war. Aber immer noch hielt sie die Augen geschlossen. Sie wollte sie öffnen, doch etwas in ihr sträubte sich dagegen. Solange sie die Lider gesenkt hielt, fühlte sie sich beschützt.
    Sie drehte sich auf eine Seite und zog sich langsam hoch, bis sie auf dem Boden saß. Inzwischen war sie vollkommen wach. Es kam ihr töricht vor, die Augen zuzukneifen, als wäre sie ein kleines Mädchen, also öffnete sie sie endlich.
    Wie eine Seele, die aus der Hölle zurückgekehrt war, tauchte vor ihr wieder dieses Grauen auf, das sie bemerkt hatte, kaum dass sie ins Zimmer getreten war. Doch diesmal fiel sie nicht in Ohnmacht, sie wandte auch nicht den Blick ab. Sie wollte es eigentlich, aber sie brachte es nicht fertig.
    Was sie da vor sich sah, war nicht nur über alle Maßen grauenhaft, es war wider die Natur, lag jenseits ihres Vorstellungsvermögens. In ihrem Kopf drehte sich alles, und vielleicht wäre sie erneut in Ohnmacht gefallen, hätte sie nicht plötzlich den zur Unkenntlichkeit verstümmelten Körper auf dem Lehnstuhl aus Holz und Leder erkannt.
    Sie riss die Augen auf, öffnete den Mund, holte tief Luft und entließ all ihre Angst in einen befreienden schrillen Schrei, der sogar die Wände zum Erzittern brachte und nicht mehr enden zu wollen schien. Sie hörte eine Stimme, begriff jedoch nicht, was sie sagte, und Schritte, dann schrie noch jemand.
    Endlich fühlte sie, wie sie wieder in die Dunkelheit stürzte. Und dankte Gott dafür.

EINS

    Aufrecht auf dem Podium stehend, in seinen langen roten Talar der Ärzte gehüllt, spürte Mondino de’ Liuzzi, wie ihm die Dezemberkälte allmählich die Beine hoch bis in den Kopf kroch. Die Kohle im Glutbecken in der Mitte des Hörsaals hatte sich in Asche verwandelt und war erloschen, aber er wollte keine Unruhe schaffen, indem er seinen Pedell rief, um sie zu erneuern. Schließlich fehlte nicht mehr viel bis zum Ende des Unterrichts.
    Die Studenten saßen alle mit über die Bänke gebeugten Köpfen vor ihm. Die ärmsten unter ihnen und diejenigen, die die von ihren Familien gewährte Beihilfe mit Weibern oder Wein durchgebracht hatten, schrieben mit einem Griffel auf Wachstafeln. Später würden sie zu Hause ihre Notizen auf unregelmäßig geschnittene Stücke Hadernpapier oder Pergament übertragen. Die anderen schrieben je nach ihren finanziellen Möglichkeiten mit den unterschiedlichsten Federn und Tinten, die sie kratzend über ihr Konzeptpapier führten.
    Ein erfrischender Anblick. Doch es hatte auch Zeiten gegeben, vor knapp sechs Monaten, da hatte Mondino ernsthaft fürchten müssen, seine Medizinschule nie mehr wiederzusehen. Aber dann hatte sich alles noch zum Guten gewendet. Er hatte nicht nur seinen Unterricht an der Universität von Bologna wieder aufnehmen können, er war sogar noch berühmter geworden, was ihm wiederum eine größere Anzahl Studenten bescherte; so viele, dass er gemeinsam mit seinem Onkel Liuzzo das Haus neben der Schule erworben hatte, um diese zu erweitern. Mehr wünschte sich Mondino nicht, abgesehen vielleicht von einer Frau, die seinen Kindern eine Mutter sein würde. Aber dazu musste er erst noch die Richtige finden.
    »Wer von euch«, begann er, als er sah, dass fast alle ihre Notizen beendet hatten, »kann mir auf der Grundlage dessen, was ich euch heute erklärt habe, sagen, warum die Brüste der Frau rund und länglich geformt sind?«
    Groß und dünn wie er war, mit seinen breiten Schultern und der hohen, von kastanienbraunen Locken eingerahmten Stirn, reichte es meist, wenn Mondino die Zuhörer mit
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