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Menschliche Einzelteile (German Edition)

Menschliche Einzelteile (German Edition)

Titel: Menschliche Einzelteile (German Edition)
Autoren: Niels Peter Henning
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1. Studie für Yuri Gagarin

    „ Glotz
nicht so blöd!“
    Sören
zuckte zusammen, obwohl er überhaupt nicht gemeint war. Er
konnte nicht glotzen, denn sie hatten ihm einen Kissenbezug über
den Kopf gezogen. Nicht irgendeinen Kissenbezug, sondern den von
Tante Evelyns Lieblingssofakissen. Den mit der komischen Zeichnung
von einer Taube drauf, die wie eine Visage aussah.
    Sören
hatte diese Taube für debiles Kindergekritzel gehalten, doch
Tante Evy hatte ihm erklärt, es handele sich um eine Zeichnung
von Pablo Picasso. „Studie für Yuri Gagarin“ würde
sie heißen. Sören trug dieses Taubengesicht nun genau auf
seiner eigenen Schnauze. Dabei wusste er noch nicht einmal, ob es
sich bei dieser Gagarin um eine Popsängerin oder um eine
Fernsehköchin handelte.
    „ Fass
mich nicht an, du Klotaucher!“
    Sören
zuckte erneut zusammen, obwohl er auch dieses Mal nicht gemeint war.
Er zuckte jedoch immer zusammen, wenn ein lautes Wort gesprochen
wurde. Leute, die ihn kannten, hatten daraus schon einen Running Gag
gemacht. Sein Therapeut beispielsweise machte sich einen Spaß
daraus, während der Gesprächstherapie unvermittelt „Buh!“
zu rufen. Er behauptete, aus Sörens Reaktion irgendwelche
Rückschlüsse auf dessen geistige Gesundheit ziehen zu
können. Sören hingegen war sich ziemlich sicher, sein
Therapeut fand es einfach nur saukomisch, ihn von Zeit zu Zeit auf
dem Sofa hüpfen zu lassen.
    „ Verdammt
nochmal, ihr Gasköpfe“, brüllte die Stimme weiter.
„Ihr habt alles versaut!“
    Diesmal
zuckte Sören nicht mehr zusammen. Das war das Gute an dem Gag:
Er funktionierte meistens nur ein- oder zweimal.
    Ganz
allmählich gelang es Sören sogar, seine Panik ein wenig in
den Griff zu bekommen und über seine Situation nachzudenken.
Also, wie sah es aus?
    Er
befand sich offenbar im Fahrzeug der Gangsterbande, die das Haus des
Eisenonkels überfallen hatte. Sören saß ganz hinten,
den Rücken gegen die Seitenwand gelehnt. Es musste sich um
einen Transporter oder einen Kastenwagen handeln. Die gesamte Bande
fand hier drin Platz.
    Um
ihn herum drängten sich die Gangster. Dem Gebrüll nach zu
urteilen, lag der Anführer in der Mitte. Der Eisenonkel hatte
ihm vor Sörens Augen in den Sack geschossen. Alle anderen
wussten offenbar nicht recht, was sie tun sollten, denn sie gaben
keinen Mucks von sich. Viel hätten sie ohnehin nicht tun
können. Nicht bei einem solchen Treffer.
    Um
seine Lage nicht zu verschlimmern, tat Sören das Einzige, was
er in dieser Situation zustande brachte: Er versuchte, sich
unsichtbar zu machen. Diese Fähigkeit hatte er in den letzten
zehn seiner inzwischen achtzehn Lebensjahre bis zur Perfektion
trainiert. Dabei musste er noch nicht einmal selbst aktiv werden. In
der Regel wurde er von allen schlichtweg übersehen.
    Und
falls doch jemand auf ihn aufmerksam wurde, dann geschah dies meist
in Situation en ,
in denen Sören es vorgezogen hätte, unsichtbar zu bleiben.
    Dies
hier war gerade eine solche Situation.
    „ He,
Remo. Willst du hier übernachten, oder was? Wir sollten
verschwinden.“
    Sören
erkannte die Stimme. Diese Mischung aus Wut und Gereiztheit konnte
nur von dem Burschen kommen, der selbst mit seiner Strumpfmaske noch
wie ein Neandertaler wirkte und sich aufführte, als sei er
gerade aus einer Höhle gekrochen.
    Dann
eine Stimme von vorne: „Sag mal, Ewald, dir muss ich doch
voll eins in die Fresse hauen, oder? Wir haben doch abgemacht, uns
nicht mit Namen anzusprechen, du Depp!“
    Sören
schüttelte den Kopf, beziehungsweise die Taubenvisage, die über
seinen Kopf gestülpt war. Diese Vollpfosten redeten sich schon
die ganze Zeit über mit Namen an. Diesem Remo war es bis jetzt
nur noch nicht aufgefallen.
    Remo
- das war dieser große, kräftige Kerl, der seine
sächsische Herkunft nicht ganz verleugnen konnte.
    „ Ist
doch scheißegal.“ Das war wieder Ewald. „Wir sind
doch unter uns.“
    „ Ach
nee“, sagte Remo. „Sind wir das wirklich? Und was ist
mit dem Idioten da hinten?“
    Sören
zuckte zusammen - und das ging in Ordnung, denn diesmal war er
tatsächlich gemeint. Allerdings war er sich nicht ganz sicher,
ob er wirklich der einzige Idiot hier hinten war.
    Ewald
zögerte einen Moment. Dann sagte er: „Ach Mist, den habe
ich ja völlig übersehen.“
    Sören
zuckte mit den Schultern. So war das nun einmal mit der
Unsichtbarkeit.
    „ Mann
Ewald, du blöder Hammel“, fauchte Remo. „Der kennt
jetzt unsere Namen. Du hast den Typen mitgeschleppt, also
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