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Die Zuflucht

Die Zuflucht

Titel: Die Zuflucht
Autoren: Ann Aguirre
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NACHTSCHWALBE
    Ich spürte kalten Stahl an meiner Kehle und wachte auf.
    Seit wir vor zwei Monaten in Erlösung angekommen waren, hatte ich mich zwar an die Sicherheit gewöhnt, aber ich hatte nichts von meiner Wachsamkeit verloren. Ich schlug das Messer weg und schleuderte den Angreifer mit einem Wurf zu Boden.
    Während Pirscher sich wieder hochrappelte, setzte ich mich auf und runzelte die Stirn. Oma Oaks würde uns bei lebendigem Leib die Haut abziehen, wenn sie uns hier erwischte. Der Ruf war hier das Allerwichtigste, und meiner war ohnehin schon beschädigt, weil ich darauf bestand, ich selbst zu sein.
    » Saubere Arbeit, Taube.« Pirschers Grinsen blitzte im Mondlicht.
    » Was machst du hier?«
    Es war mitten in der Nacht, aber er liebte diese kleinen Tests.
    » Sie kommen. Ich hab die zweite Glocke gehört.«
    Mein Zorn legte sich. Pirscher hatte sich nicht nur in mein Zimmer geschlichen, um trotz unserer heiklen Lage meine Reflexe zu testen. Wir waren Fremde hier und taten gut daran, die Gastfreundschaft der Bewohner von Erlösung nicht überzustrapazieren, indem wir ständig gegen die Regeln verstießen. Die meisten dieser Regeln schienen dazu da, illegale Fortpflanzung zu verhindern, und man sah es nicht gern, wenn ich mit Pirscher allein trainierte. Schon nach ziemlich kurzer Zeit hatte ich begriffen, dass ich kein normales Mädchen war– zumindest nicht in ihren Augen. Also trainierten wir nachts und im Geheimen.
    » Sehen wir mal nach. Dreh dich um«, sagte ich.
    Ich legte mein Jägerinnengewand an und gürtete meine Waffen um. Ich hatte mich geweigert, sie herauszugeben, auch wenn viele sich beschwerten, wie » unangemessen« es für mich sei, sie zu tragen. Meistens waren es Frauen, die sich bei Oma Oaks über mein » heidnisches Gebaren« beklagten. Ich sei bei Wilden in einer Höhle aufgewachsen, sagten sie. Aber ich hatte mir meine Waffen und Narben verdient. Ich würde die Waffen erst rausrücken, wenn ich tot war, und das wusste auch Oma Oaks. Um die Lehrerin nicht vor den Kopf zu stoßen, trug ich in der Schule allerdings ein langärmliges Hemd, das meine Jägerinnennarben verbarg.
    Pirscher schlüpfte durch das Fenster nach draußen, durch das er wenige Minuten zuvor hereingekommen war. Wenn ich nicht so heiß auf diese nächtlichen Trainingskämpfe gewesen wäre, würde ich es verriegeln, aber das Sparring mit Pirscher war das Einzige, was mir noch das Gefühl gab, eine Jägerin zu sein.
    Ich folgte ihm, sprang auf den Baum vor meinem Fenster und ließ mich hinab in den stillen Hof gleiten.
    Es war eine warme Nacht, und der Mond malte silbrige Muster auf den Boden. Das Gras fühlte sich herrlich an unter meinen nackten Füßen. Früher hatte ich nur den nackten Beton und Schotter tief unter der Erde gekannt. Es war dort laut gewesen: Ständig hallten Echos durch die dunklen Tunnel, leises Stöhnen und Wimmern. Aber diese Welt existierte nicht mehr.
    Ich lebte jetzt in Erlösung. Die Häuser hier waren solide, weiß getüncht und sauber. Männer und Frauen gingen strikt getrennten Aufgaben nach, und das machte mir zu schaffen. Unten hatte mein Geschlecht so gut wie keine Rolle gespielt. Jeder machte das, was er am besten konnte; Männer wie Frauen wurden Schaffer, Zeuger oder Jäger. Das war nicht von Anfang an so gewesen – erst seitdem die erste Frau an der Seite der Jäger gekämpft hatte, um unsere Enklave zu verteidigen. Wenn es darum ging, unser Zuhause zu beschützen, konnten Frauen genauso hart und unerbittlich kämpfen wie Männer. Und dafür wollten wir den Respekt, der uns gebührte.
    Auch die Bälger behandelten sie hier in Erlösung ganz anders. Egal, wie groß die Bedrohung von außen sein mochte, Bälger durften nicht kämpfen. Aber ich hatte zu lange für die Sicherheit von College gekämpft, um einfach tatenlos zuzusehen, wie andere für mich und mein Leben starben. Die Stadt war gebaut wie ein Fort, eingefasst von einer hohen Mauer aus angespitzten Holzpfählen und einem stabilen Tor. Die Krone war begehbar. Die Wachposten auf den Türmen sollten die Bewohner beschützen und die Freaks draußen halten, aber ich hatte meine Zweifel. Pirscher und ich hatten gebeten, auf Erkundung gehen zu dürfen, damit wir wussten, mit wie vielen Freaks wir es zu tun hatten und ob die Wachposten sich gegen sie würden halten können. Es schien mir ein vernünftiger Vorschlag, aber die Verantwortlichen – ältere Bewohner, die tatsächlich alt waren – waren der Meinung, junge Menschen
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