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Die Stimme der Jaegerin

Die Stimme der Jaegerin

Titel: Die Stimme der Jaegerin
Autoren: Thea Harrison
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Die Tiefen
    Claudia hatte nicht erkannt, dass es sich bei dem beträchtlichen Hügel auf dem Seitenstreifen des Highways um ein Lebewesen handelte. Nicht auf Anhieb.
    Mit fast hundertachtzig Stundenkilometern fuhr sie auf der I-80W durch ein einsames Stück Nevada. Die Weiten der Wüste waren mit Flecken in Lindgrün, silbrigem Sandbraun, Gold und Beige übersät und von dunklen, schneebedeckten Bergen umringt. Der Himmel spiegelte das Land in riesigen Schwaden silbern umrandeter Wolken. Die windgepeitschte Stille war gewaltig, brutale Hitze strahlte von der durchdringend gelblichweißen Nachmittagssonne herab und stieg brodelnd vom Straßenbelag auf. Angeblich trafen sich in den Wüstenregionen der Erde die Dschinn zum Tanz.
    Später hätte sie nicht mehr erklären können, warum sie angehalten hatte, um sich die Sache anzusehen. Sie war einfach einem Impuls gefolgt, auf die Bremse gestiegen und hatte gewendet. Auf dem Highway waren keine anderen Fahrzeuge zu sehen, sie war das einzige Lebewesen weit und breit. Jedenfalls dachte sie das.
    Claudias 1984er BMW kam neben der Erhebung zum Stehen. Beim näheren Hinsehen wurde ihr schwer ums Herz. Es war ein Hund, ein ungewöhnlich großer. Auch wenn sie sich mit Rassen nicht auskannte, war sie sicher, dass es sich um eine Haushund-Art handeln musste. Ein Wolf oder Kojote war es gewiss nicht. Der leblose Körper war muskulös, er hatte eine breite, kräftige Brust, einen langen, schweren und dennoch eleganten Knochenbau und einen stattlichen, wohlproportionierten Kopf. Der Hund hatte entsetzliche Verletzungen erlitten. Sein Hals war dick angeschwollen, sein dunkelbraunes und schwarzes Fell mit großen Schürfwunden übersät.
    Claudia fragte sich, was er hier mitten in der Wüste machte. Hatte ihn jemand angefahren, oder war er ungesichert auf der Ladefläche eines Transporters mitgefahren und herausgefallen? Womöglich beides. Sie hoffte, dass er schnell gestorben war.
    Eine seiner riesigen Vorderpfoten zuckte.
    Noch bevor ihr Gehirn kapierte, was ihr Körper tat, rammte sie den Schalthebel des BMW in die Parkposition und griff nach ihrer Wasserflasche. Als sie aus dem Wagen stürzte, fiel die Abschirmung, die sie so mühsam aufgebaut hatte, von ihr ab. Sie durchschritt eine unsichtbare Barriere, um ganz in ihre Umgebung einzutauchen und mit ihr in Kontakt zu treten.
    Neben dem Hund fiel sie auf die Knie. Von wegen »ungewöhnlich groß« – er war riesig. Sie wusste zwar nur wenig über Hunde, aber doch so viel, dass nur wenige Rassen eine solche Größe erreichten. Er war größer als ein Deutscher Schäferhund und zu schwer für eine Dänische Dogge, also musste es sich um eine andere Doggenart handeln. Verdammt, er war nicht nur am Leben, es sah sogar aus, als wäre er bei Bewusstsein. Sein keuchender Atem ging schnell und flach, die Zunge hing ihm aus dem offenen Maul. Die Augen hatte er geschlossen, und die Muskeln im Bereich der Augenhöhlen waren vor Schmerzen angespannt.
    »Gütiger Himmel.« Der Wind, der über die kilometerweite Einsamkeit hinwegfegte, riss ihr die Worte von den Lippen und trug sie davon.
    Vorsichtig schob sie dem Hund eine Hand unter den Kopf, hob ihn an und versuchte ihm ein wenig Wasser ins Maul zu träufeln. Er hatte gefährliche Beißerchen – kräftige weiße Zähne, so lang wie ihre Finger. Es war schwierig zu sagen, ob er das Wasser überhaupt bemerkte. Sie glaubte es nicht.
    Claudia war ein wenig größer als die Durchschnittsfrau und wog zwischen siebzig und zweiundsiebzig Kilo. Der Hund war sicherlich um die Hälfte schwerer als sie, vielleicht hundert oder hundertzehn Kilo. Eine normale Menschenfrau hätte keine Chance gehabt, ein solches Gewicht auf den Rücksitz ihres Wagens zu hieven. Aber Claudia war keine normale Menschenfrau.
    Sie besaß magische Energie, die sich in Form einer telekinetischen Gabe manifestierte, aber es war nur ein kleiner Funke, weshalb sie das, worauf sie diese Gabe anwenden wollte, stets berühren musste. Wenn jemand dicht genug bei ihr stand, brachte sie ein bisschen Telepathie zustande, und vielleicht reichte dieser Funke aus, um ein Anderland zu betreten – einen jener Orte voller Magie, die sich bei der Entstehung der Erde gebildet hatten, als Raum und Zeit Falten geworfen hatten. Vielleicht – vielleicht aber auch nicht. Sie wusste es nicht und hatte es nie ausprobiert.
    In Sachen Telekinese war ihre magische Energie oder Begabung nicht besonders ausgeprägt, aber sie ermöglichte ihr ein paar
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