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In Blut geschrieben

In Blut geschrieben

Titel: In Blut geschrieben
Autoren: Maxime Chattam
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PROLOG
    12. April 1997
irgendwo über Colorado
    Harvey Morris klappte das Tischchen vor sich herunter und legte seine Quarzuhr darauf. Ein dumpfes Brummen erfüllte die Kabine, das lediglich vom leisen Weinen eines Kindes ein paar Reihen hinter ihm gestört wurde. Die anderen Passagiere sahen sich den Film an oder dösten vor sich hin.
    Harvey trommelte nervös mit den Fingern auf die Armlehne und sah aus dem Flugzeugfenster. Er hielt es vor Ungeduld kaum mehr aus. Die Minuten dehnten sich zu Stunden und verlängerten so seine Qualen. Sein Rücken schmerzte, er musste sich unbedingt die Beine vertreten, doch sein Sitznachbar schlief und versperrte ihm den Weg zum Gang. Erneut sah er auf die Uhr. Als wenn das irgendetwas hätte ändern können. Sechzehn Uhr zweiundvierzig. Die Zeit wollte einfach nicht vergehen.
    Da man nicht rauchen durfte, nahm er sich noch einen Kaugummi – den fünften seit dem Start. Auf gar keinen Fall hätte er eines dieser Nikotinpflaster verwendet, die die Stewardessen an Interessierte verteilten. Wer konnte ihm garantieren, dass diese Dinger nicht Hautkrebs auslösten, dachte er misstrauisch. Seufzend vertiefte er sich erneut in die Betrachtung des Himmels – ein Gewirr aus fedrigen Wolken, darüber unendliches Azurblau.
    Während das Flugzeug in dreißigtausend Fuß Höhe bei einem Luftdruck von dreihundert Millibar, also vergleichbar den Bedingungen auf dem Mount Everest, mit einer Geschwindigkeit von dreihundertfünfundzwanzig Knoten dahinflog, verschwand die Boeing 747 der Continental Airline von den Bildschirmen.
    Die Maschine schwebte majestätisch über einem milchig weißen Wolkenmeer, glitt zwischen dem Blau des Himmels und dem regungslosen Gekräusel dahin. Der Flugzeugrumpf glitzerte in der Sonne und funkelte an manchen Stellen wie kleine Diamanten. Plötzlich drang durch eines der runden Fenster ein greller Schein.
    Nichts Außergewöhnliches, einfach ein kurzes Aufblitzen.
    Der Rest war eine Sache von Sekunden.
    Wie von Zauberhand schien die Luft aus dem Rumpf herausgesogen zu werden. Als würde man einen Tetrapak mit einem Strohhalm leeren, bis am Ende kein bisschen Luft mehr darin war. Eine Tonne komprimierte Luft strömte in die Atmosphäre.
    Gleichzeitig breitete sich Feuer aus.
    In der Mitte der Kabine erhob sich eine Flammenkugel, die in Sekundenschnelle die ganze Maschine verschlang. Die Fenster splitterten, der Rumpf brach auseinander, und die Tragflächen zersprangen, während ein Kerosintank nach dem anderen explodierte. Das riesige Leitwerk in den Farben der Fluggesellschaft barst und zerfiel in Tausende glutroter Späne. Die vier sechzehn Tonnen schweren Rolls-Royce-Motoren vom Typ RB211 verteilten sich kilometerweit am Himmel.
    Die aus viereinhalb Millionen Einzelteilen bestehende Maschine des Flugs CO-4133 wurde vollständig und nahezu lautlos zerstört.
    *
    Neuntausendeinhundertfünfzig Meter weiter unten lag ein fünfzehnjähriger Junge auf einer Wiese. Vogelgezwitscher und das unregelmäßige Zirpen einer Grille waren die einzigen Geräusche, die die Stille ringsum durchbrachen. Einen Grashalm zwischen den Lippen, dachte er an Jessica, das Mädchen, das im Matheunterricht neben ihm saß. Sein Blick verlor sich in der weißen Wolkendecke, als er plötzlich einen leuchtenden Punkt darin zu erkennen glaubte. Im ersten Moment hielt er dieses kurze, grelle Aufblitzen für das Leuchtfeuer einer verirrten Raumfähre. Da sich das Phänomen aber nicht wiederholte, vergaß er es und gab sich wieder seinen jugendlichen Träumereien hin.
    Als er am Abend in den Nachrichten von der Flugzeugkatastrophe hörte, stellte er keinen Zusammenhang zu dem Zwischenfall her.
    Dreihundertzwölf Passagiere und Besatzungsmitglieder starben ohne einen Zeugen, gleichsam anonym.
    Als sich der Schnee auf den Rocky Mountains purpurrot färbte, wurde eine Pressekonferenz einberufen – als wagte man erst bei Einbruch der Dunkelheit, über den Tod zu sprechen. Mitglieder der NTSB 1 und der FAA 2 sowie einige Vertreter der Fluggesellschaft waren anwesend. Widerstrebend gab man zu, sich das Geschehene nicht erklären zu können. Man verwendete die Begriffe »bedauerlicher Unfall« und »technische Havarie« quasi als vorbeugende Entschuldigung, ehe man mit den betroffenen Familienangehörigen Kontakt aufnahm.
    Auch Jahre später hatte man keine Erklärung für diesen »Zwischenfall«. Die Hypothese, der Auslöser sei ein Kurzschluss gewesen, blieb lange Zeit die bevorzugte Erklärung, konnte
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