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Rosendorn

Rosendorn

Titel: Rosendorn
Autoren: Jenna Black
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    Prolog
    D er Tropfen, der das ohnehin schon randvolle Fass schließlich zum Überlaufen brachte, war der Moment, als meine Mom betrunken bei meinem Konzertabend auftauchte. Damit meine ich nicht beschwipst – ich meine torkelnd, lallend und für jedermann ersichtlich besoffen. Und als wäre das nicht schon schlimm genug, kam sie auch noch zu spät. Als sie durch die Türen wankte und ganz hinten auf einen der Klappstühle aus Metall fiel, drehte jeder im Saal den Kopf, um sie wütend anzufunkeln, weil sie die Vorstellung störte.
    Ich wartete hinter den Kulissen auf meinen Auftritt und wäre am liebsten vor Scham im Boden versunken. Ms. Morris, meine Gesangslehrerin, war die Einzige im Raum, die wusste, dass der Störenfried meine Mutter war. Ich hatte sehr genau darauf geachtet, jeden Kontakt zwischen meiner Mutter und den Schülern dieser Schule zu verhindern – meiner neuesten Schule, auf der ich hoffentlich meinen Abschluss machen würde. Falls wir es schafften, nur dieses eine Mal zwei volle Jahre an ein und demselben Ort zu bleiben.
    Als ich an der Reihe war, warf Ms. Morris mir einen mitfühlenden Blick zu, bevor sie ihre Hände auf die Tasten des Pianos legte. Mein Gesicht glühte vor Scham, und meine Kehle war so zugeschnürt, dass ich Angst hatte, meine Stimme würde versagen, sobald ich den Mund aufmachte.
    Dabei habe ich von Natur aus eine schöne Stimme – eine Folge meiner supergeheimen Feenabstammung. Eigentlich hatte ich keinen Gesangsunterricht nötig, aber die Sommerferien würden in ein paar Wochen beginnen, und ich brauchte unbedingt eine Ausrede, um ab und zu mal aus dem Haus zu kommen, ohne gleich jede Minute meiner freien Zeit opfern zu müssen. Gesangsunterricht passte da wunderbar. Und außerdem machte es mir Spaß.
    Mein Herz hämmerte in meiner Brust, und meine Handflächen waren schweißnass, als Ms. Morris die Einleitung spielte. Ich versuchte, mich auf die Musik zu konzentrieren. Wenn ich das Lied überstand und mich auch sonst normal verhielt, musste ja niemand im Publikum erfahren, dass die betrunkene Idiotin in der letzten Reihe mit mir verwandt war.
    Als das Vorspiel zu Ende war, kam mein Einsatz. Trotz meiner suboptimalen Gefühlslage ergriff die Musik Besitz von mir, und ich ließ mich von der Schönheit von »Voi che sapete«, einer meiner Lieblingsarien von Mozart, mitreißen. Traditionsgemäß wurde das Lied von einer Frau gesungen, die so tat, als wäre sie ein Junge. Deshalb war diese Arie perfekt für meinen klaren Sopran mit diesem Hauch von Vibrato, der meiner Feenstimme einen menschlichen Anklang verlieh.
    Ich traf jede Note und vergaß auch meinen Text nicht. Ms. Morris nickte ein paarmal zufrieden, als mir die Phrasierung so gelang, wie sie es sich vorstellte. Doch ich wusste, dass ich es besser gekonnt hätte, dass ich mehr Gefühl hätte hineinlegen können, wenn ich mir Moms Anwesenheit nicht so zwanghaft bewusst gewesen wäre.
    Ich atmete erleichtert auf, als ich fertig war. Das heißt, bis der Applaus anfing … Die meisten Eltern und Schüler spendeten einen höflichen, aber herzlichen Beifall. Meine Mom dagegen feierte mich mit stehendem Applaus und zog damit einmal mehr alle Blicke auf sich. Und machte selbstverständlich klar, dass sie zu mir gehörte.
    Wenn ich in diesem Augenblick vom Blitz erschlagen worden wäre, hätte ich überhaupt nichts dagegen gehabt.
    Ich hätte ihr gar nicht von dem Konzert erzählen sollen. Doch obwohl ich es eigentlich besser wusste, war da immer noch dieser Teil von mir, der sich eine normale Mutter wünschte, die kam, um mich singen zu hören, die mir applaudierte und stolz auf mich war – ohne dabei sturzbesoffen zu sein. Ich bin so bescheuert!
    Ich fragte mich, wie lange es dauern würde, bis die Geschichte sich an
dieser
Schule herumgesprochen hätte. An meiner letzten Highschool hatte es, nachdem eine dieser zickigen Cheerleaderinnen mir und meiner Mutter beim Einkaufen in die Arme gelaufen war – Mom war natürlich alles andere als nüchtern gewesen –, ganz genau einen Tag gedauert, bis wirklich jeder gewusst hatte, dass meine Mutter eine Alkoholikerin war. Zwar hatte ich auch vorher nicht gerade zu den beliebten Schülern gehört, aber danach … Tja, sagen wir einfach, dass ich ein einziges Mal echt erleichtert war, als wir wieder umzogen.
    Ich bin sechzehn Jahre alt, und soweit ich zurückdenken konnte, hatten wir schon in zehn unterschiedlichen Städten gewohnt. Wir zogen so oft um, weil Mom
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