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Tausend und ein Tag - Orientalische Erzählungen

Titel: Tausend und ein Tag - Orientalische Erzählungen
Autoren: Anonymer Verfasser
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Die Geschichte des Prinzen Malik al-Nasir
    Der Sultan Kalaun von Ägypten hatte zwei Söhne; und als er eines Tages über den Wankelmut des Schicksals nachsann, das mit den Fürsten wie mit den andern Menschen spielt, beschloß er, den Prinzen Malik al-Nasir – das ist ›der erobernde König‹ –, seinen zweiten Sohn, ein Gewerbe lernen zu lassen, das ihn im Falle der Not zu ernähren vermöchte. Er gab ihn also bei einem berühmten Schneider der Stadt Kairo in die Lehre, der ihn in kurzer Zeit lehrte, mit der größten Vollkommenheit Kleider zuzuschneiden und zu nähen.
    Erst staunten alle in höchstem Staunen ob dieses Entschlusses, den der Sultan gefaßt hatte, denn sie sahen in seiner Vorsorge lächerliche Furcht; niemand glaubte, daß der Sohn eines Sultans von Ägypten eines Tages in solche Not geraten könnte, daß er um seinen Lebensunterhalt arbeiten müßte. Aber in Bälde vollzog sich im Lande eine Umwälzung, die all jenen, bei denen Kalauns Verhalten keinen Beifall gefunden hatte, zeigte, wie sehr sie im Unrecht gewesen waren. Denn der Sultan starb, und der Prinz Malik Aschraf, sein ältester Sohn, bestieg den Thron.
    Das erste nämlich, was der neue Sultan tat, bestand darin, daß er seinen Hauptleuten Befehl gab, seinen Bruder, der noch bei dem Schneider war, aufzusuchen und ihm vorzuführen, damit er durch seine Hinrichtung allen Aufständen und Kriegen zuvorkäme, die er im Lande Ägypten erregen könnte. Zu seinem Glück nun erfuhr Malik al-Nasir von der grausamen Absicht seines königlichen Bruders. Er verkleidete sich also und verließ heimlich die Stadt, indem er sich unter die Pilger mischte; mit ihnen besuchte er die Kaaba, das heißt den Tempel zu Mekka.
    Während nun die Pilger und er den Umzug vollzogen, fühlte er plötzlich etwas Hartes unter den Füßen, und als er nachsah, was es sein mochte, erblickte er einen vollen Geldbeutel; er hob ihn auf und schob ihn in seine Tasche, ohne daß einer der Pilger es bemerkte, und setzte den Marsch im Umzug fort. Er war sehr neugierig, was er enthalten mochte, doch wagte er seine Neugier nicht vor aller Augen zu befriedigen und harrte voll Ungeduld des Augenblicks, in dem der Umzug sein Ende erreichen würde, um sich an einen entlegenen Ort zurückzuziehen. Da aber hörte er einen Khwadschah, das heißt einen Gelehrten, der zwei große Steine in den Händen hielt und sich unbarmherzig damit auf die Brust schlug, indem er mit lauter Stimme rief: »Weh mir! Ich Unglücklicher! Ich habe meinen Geldbeutel verloren! Alles, was ich durch meine Arbeit verdient hatte, die ganze Frucht meiner Mühen und mein ganzer Besitz stecken darin! O ihr Moslems, meine teuren Brüder, erbarmt euch meiner. Wenn einer von euch ihn gefunden hat, so gebe er ihn mir um Gottes willen und aus Ehrfurcht vor dem heiligen Tempel in Mekka. Die Hälfte soll ihm gehören, und ich erkläre, daß er an sie einen ebenso gerechten Anspruch haben soll wie an die Milch seiner Mutter.«
    Der unglückliche Gelehrte sprach diese Worte unter so lebhaften Zeichen des Schmerzes und der Verzweiflung, daß alle Pilger gerührt waren. Und mehr als alle andern spürte Malik al-Nasir das Mitleid in seiner Brust, also daß er bei sich selber sprach: ›Ich richte diesen Khwadschah mit den Seinen zugrunde, wenn ich diesen Beutel behalte. Es ist nicht recht, daß ich, um selber glücklich zu werden, andre elend mache. Und wenn ich auch kein Königssohn,sondern statt dessen der letzte der Menschen wäre, so möchte ich darum doch nicht die Habe andrer nehmen.‹
    Und als er diese Überlegungen angestellt hatte, rief er den Khwadschah, zeigte ihm den Beutel und sprach zu ihm: »O Gelehrter, ist es dies, was du verloren hast?« Der Khwadschah, den bei diesem Anblick ein Übermaß der Freude packte, griff auf der Stelle nach dem Beutel, erfaßte ihn und schob ihn in seine Tasche. »Und weshalb«, fragte ihn der Prinz, »entreißest du ihn mir so gewaltsam? Fürchtest du, daß er dir entgehen könnte, oder hast du nicht die Absicht, mir die Hälfte von dem zu geben, was er enthält, wie du es versprachest?« »Vergib mir,« erwiderte der Khwadschah, »vergib einem Überschwang, den ich nicht zu beherrschen vermochte. Du brauchst mir nur zu folgen, so werde ich mein Versprechen erfüllen.« Mit diesen Worten führte er ihn unter sein Zelt, wo er den Beutel hervorzog, ihn küßte, das Siegel brach und ihn auf einen Tisch entleerte.
    Malik al-Nasir, der erwartet hatte, daß er Goldstücke sehen würde,
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