Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Jage zwei Tiger

Titel: Jage zwei Tiger
Autoren: Helene Hegemann
Vom Netzwerk:
gelegentlich rumgebrüllten Kommandos war es still. Bis eine Frau aus einem der Wohnwagen trat, drei weiße Tauben auf der Schulter und zehn bis zwanzig weitere in einem riesigen Bastkorb vor sich hertragend. Sie hatte ein weißes Paillettenkleid mit Tüllrock an, gigantisch, allerdings nur halb angezogen, es war aufgrund des offenen Reißverschlusses bis zur Hüfte runtergerutscht. Unter dieser Abendrobe kam ein billiger, halb kaputter Nylonbody zum Vorschein, der so schlecht saß, dass sich Fettwülste unter den Bündchen hervorquetschten. Extremes Make-up, angeklebte Wimpern, abgesehen davon ziemlich attraktiv. Während sie gleichzeitig die Tauben und den Rest ihres Outfits zusammenzuhalten versuchte, ließ sie Hasstiraden los auf jemanden, der sich noch im Wohnwagen befand – und nach einigen Sekunden herauskam, mit gesenktem Kopf. Ein Mädchen, zur Abwechslung blond.
    Ohne sich anzugucken, liefen sie über den Platz und schrien sich an.
     
    »Ey, ich bin keine fünf mehr!«
    »Um neun Uhr haste zu Hause zu sein!«
    »Neeiheein, mit vierzehn darf man bis zehn raus, halt doch einfach die Fresse, wenn du mit mir redest!«
    »Ich möchte aber mit dir kommunizieren, Samantha!«
    »Ich aber nicht mit dir, falls du es immer noch nicht verstehst!«
    »Warum denn nicht?«
    »Darum nicht. Weil du mir halt immer aufn Sack gehst.«
    »Das ist aber keine vernünftige Antwort.«
    »Du willst ne vernünftige Antwort? Super, bitte: Weil du mich eh nicht verstehst! Und weißt du überhaupt, was Kommunikation heißt, du kannst das doch noch nicht mal gescheit aussprechen!«
    »Na und?«
    »Lern erst mal mit so Fachdrücken um dich rumzuschmeißen, ey.«
    »Fachausdrücken, Samantha.«
    »What?«
    »Wo, mein liebes Kind, hast du denn jetzt ein Problem, mit mir zu reden?«
     
    Die beiden kamen an dem Wohnwagen mit Terrasse an, Samantha schlüpfte aus ihren Schuhen und knallte die Tür hinter sich zu. Die Frau blieb auf der Terrasse stehen, stellte den Taubenkorb ab und quetschte die Vögel von ihrer Schulter zu den anderen, hysterisches Gurren, sie atmete tief durch und rief dann dem unbeeindruckt weiterarbeitenden Rest der Familie zu: »Früher hätte ich ihr direkt ins Gesicht gehauen, egal ob Anzeige oder nicht, aber die weiß ja, wir dürfen nicht hauen, und deswegen kann die auch so großartig rumprotzen. Was willste mir, tja, wenn du mich schlägst, zeig ich dich an. Das ist heute so. Ist es weltfremd zu behaupten, ich hätte zu viele Rechte genommen gekriegt, als Mutter?«
    Es erfolgte, außer dass Samantha zurück auf die Terrasse stürmte und ihrer Mutter ins Gesicht spuckte, um sich dafür eine Ohrfeige einzufahren und schwerstbeleidigt von dannen zu ziehen, mit ausgestrecktem Mittelfinger in die Untiefen des Waldes hinein, keine Reaktion. Ein alter Volvo fuhr vor, aus dem ein Mann ausstieg. Liebes Gesicht, breite Schultern, mehrere Einkaufstüten in der einen Hand, ein totes Eichhörnchen in der anderen. Tequila und Sunrise stürmten auf ihn zu. Anstatt die Hunde zu begrüßen, hielt er demonstrativ das Eichhörnchen von sich weg und teilte allen Anwesenden lächelnd mit:
    »Manche denken, es gehe um den simplen Vorgang, eine Straße zu überqueren. Doch ich wusste immer: Es geht ums nackte Überleben!«
    Mutter (genervt, aggressiv, über den ganzen Platz): »Gleich gibt’s Essen, beeilt euch!«
     
    Kai saß mal wieder hinter irgendeinem Busch, wo auch sonst in seiner neu eingenommenen Position als minderjähriger Outlawjunge. Beim Gedanken an das eben erwähnte Essen musste er fast kotzen vor Übelkeit, er empfand erschreckenderweise nicht mal Durst – trotzdem das vernunftgesteuerte Gefühl, dass es ihm mit etwas Flüssigkeit besser gehen würde. Von allen Seiten trottete eine unerwartet große Menge Familienmitglieder aller Altersklassen zum Wohnwagen. Der Vater stand währenddessen rauchend auf der Terrasse, klopfte allen auf die Schulter, stilecht, und schien darüber nachzudenken, was nun mit dem matschigen Kadaver in seiner Rechten anzufangen sei. Er schmiss die Zigarette über das Terrassengeländer und das Eichhörnchen, nicht ohne zu zögern, hinterher. Dann ging er als Letzter in den Wohnwagen und zog die Tür hinter sich zu, was Kai als hinreichenden Grund begriff, sich für die nächste halbe Stunde sicher genug zu fühlen, über die Befriedigung seiner Grundbedürfnisse nachzudenken. Er brauchte Wasser, klarer Vorgang, vor dem Wohnwagen stand ein Trinknapf für die Hunde, den konnte er allerdings
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher