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Jage zwei Tiger

Titel: Jage zwei Tiger
Autoren: Helene Hegemann
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in die Richtung der Liegestühle zu schmeißen. Kai wurde aus der Ferne mit der bedeutendsten Armmuskulatur konfrontiert, die ihm je untergekommen war. Im Gegensatz zu seiner Begleiterin war der Mann nicht im Geringsten hübsch, eine zu große, offenbar mehrmals gebrochene Nase, winzige Augen, undefinierbare Haarfarbe. Aber seine derart selbstverständlich durchtrainierte Körperlichkeit, die Haltung, das Lachen und seine Haut, die aus unerfindlichen Gründen im Sonnenlicht glitzerte (ja, glitzerte, Reste von Bodyspray aus dem Drogeriemarkt würde ich mal vermuten, ein Glitzern, das er uneingeschränkt zu seiner natürlichen Physiognomie hätte zählen können) – irre attraktives Alien. Der Frührentner wusste sich ob dieser Provokation nicht anders zu helfen, als die dem Stock hinterherstürmenden Hunde mit einem Handtuch zu verscheuchen. Die Hunde erkannten darin eine Spielaufforderung und versuchten immer hysterischer, das Ende des Handtuchs zu fassen zu kriegen. Der Frührentner begann nach ihnen zu treten. Er erwischte den größeren so hart an der Schnauze, dass er zur Seite geschleudert wurde und sich sekundenlang nicht mehr rührte. Bis er einen unglaublichen Schrei ausstieß, der in ein Winseln überging. Der zweite Hund rannte bellend hin und her, blieb stehen, konnte sich nicht zwischen Knurren und Heulen entscheiden, der Frührentner bekam Schiss. Nicht vor dem Zwerghund, sondern vor dessen merkwürdig glänzendem Besitzer, der auf ihn zurannte. Er versuchte von der Situation abzulenken, mit dem unbeholfenen, sich auf den abgebrochenen Ast beziehenden Satz: »Und jetzt auch noch die Natur kaputt machen, ihr asozialen Spinner! Wo sind eure verdammten Hundemarken?«, woraufhin der Glitzertyp, nachdem er an ihm vorbei zu seinem Hund gerannt war, ruhig (sinngemäß) erklärte, der Busch, von dem er den Ast abgebrochen hatte, sei bereits tot gewesen, er wolle sich weder Respektlosigkeit gegenüber der Natur unterstellen lassen noch respektlos werden gegenüber den Vollidioten, die da mit ihrem LIDL -Einweggrill tagtäglich tonnenweise Müll produzieren und damit die in dieser Gegend lebenden Tiere umbrächten, er habe generell keinen Bock mehr auf diese unfassbar aggressive und gelangweilte Kleinbürgerlichkeit – es tue ihm leid, dass ausgerechnet diese von Gott in Punkten wie Attraktivität, Intelligenz und Charme benachteiligte Gruppe von Leuten für seinen Wutausbruch herhalten müsse, aber er sei zu oft konfrontiert worden mit dieser Scheiße und er hasse die Gegend hier, er hasse die Bevölkerung, er würde am liebsten ihre verfetteten Brustkörbe nach und nach mit zentnerschweren Eisengewichten beladen, bis sie endlich aufrichtig gestünden, asozialer Dreck zu sein, der nichts vom Leben versteht – andernfalls würden nämlich ihre Brustkörbe zerbrechen. Das musste mal gesagt werden.
     
    Zum Ende seines unerwartet gut formulierten Ausbruchs hatte der Hundebesitzer die Stimme erhoben, trotzdem lachte er, genau wie die Frau neben ihm, die ihn beschwichtigend am Arm nahm und mit dem tollen Satz »Hau rein, Pascal!« in die Richtung zog, aus der sie gekommen waren. Im Gehen drehte sie sich noch mal um und schrie der naheliegenderweise konsterniert wirkenden FKK -Konstellation entgegen:
    »Haben Sie hier eigentlich ne gottverdammte Nacktliegemarke?«
    Normal.
    Der große Hund hatte sich zwischenzeitlich berappelt und war nun auf Kai zugerannt in sein Versteck zwischen den Büschen, um dort hinzukacken, einen riesigen Haufen, der drei bunte, elastische Hohlkörper aus Naturkautschuk beinhaltete – zerbissene Luftballons, wie Kai messerscharf kombinierte, er schien sich allen Ernstes in der Nähe eines die ineinanderlaufenden Grauabstufungen bekämpfenden Zirkus zu befinden, er staunte nicht schlecht. Dann fiel ihm ein, dass seine Mutter gestorben war, er seit anderthalb Tagen nichts gegessen oder getrunken hatte, dass vermutlich gerade große Gruppen von Männern systematisch den Wald nach ihm durchkämmten und er nicht ohne bleibende Schäden davonkommen würde, momentan fühlte sich sein Körper nämlich an, als würde er von Eiszapfen durchbohrt. Er gehörte nun also zu der Gruppe ins kalte Wasser geschmissener Kinder, deren Abenteuer ganze Fantasytrilogien füllten. Er erinnerte sich an eine Romanfigur namens Trevor oder so, der im Alter von elf Jahren Wildschweinfallen, Flöße und wetterfeste Waldhütten aus Palmblättern bauen konnte – und begann also mit größenwahnsinnigem
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