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Jage zwei Tiger

Titel: Jage zwei Tiger
Autoren: Helene Hegemann
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sich von nun an nur noch auf sich selbst zu konzentrieren und deshalb als einzigen Schritt der Selbstverteidigung cool zu bleiben. Aus Neugierde verließ er das Auto. Der deformierten Person, die jetzt nichts anderes mehr für ihn war als eine Ansammlung überlebender Bakterien, wurde von dem Ersthelfer das T -Shirt vom blutüberströmten Leib gerissen, der Typ maß mit seinen Fingern irgendeinen Abstand zwischen zwei Rippengegenden ab und begann laut zu zählen, wie oft er sich noch auf ihrem Herzen abstützen müsse. Als er bei dreißig angelangt war, bestand sein erster Impuls in einem dynamischen Übergang zur Mund-zu-Mund-Beatmung – Binkys Gesicht bestand jedoch nur noch aus Rotz, Blut und verschiedenfarbigen anderen Körperflüssigkeiten, wahrscheinlich quoll auch schon Gehirnmasse aus Löchern, also drehte er sich zu seiner Begleiterin um und teilte der nach einem langen Ausatmen mit: »Ich kann doch meinen Schülern nicht eintrichtern, dass sie Situationen sterilisieren, also im Klartext: ihre eigene Gesundheit als das Wichtigste betrachten müssen, und hier jetzt selber die Infektionen einer Fremden ablecken!«
    Die Frau, sowieso schon die ganze Zeit den Tränen nah, nickte verständnisvoll und wandte sich vor lauter emotionaler Überforderung ab. Der Typ machte seine Sportschuhe vernünftig zu und dann mit der Herzmassage weiter, nach neuesten wissenschaftlichen Standpunkten konnte die selbst ohne Beatmung weiterhelfen. Die Frau stand auf. Und genau in diesem Moment bemerkte sie den Jungen.
     
    Wie er da mit nahezu geschwellter Brust neben dem Auto stand und anstatt Mitleid oder Verantwortungsgefühl ausschließlich Staunen in ihr auslöste. Ein dermaßen wissender und straighter Blick, als wäre er gerade selbst gestorben. Die Frau ging einen Schritt auf ihn zu, er einen Schritt nach hinten. Und als Kai realisierte, wie stillos und inadäquat es sein würde, morgen beim Kinderpsychologen das Verhältnis zu seinem Vater mit dem spontan gewählten Abstand zwischen zwei Bauklötzen zu visualisieren, fing er an zu rennen. So schnell und ausdauernd wie nie zuvor in seinem Leben. Von der an die Autobahn angrenzenden Wiese, auf der er es schaffte, den durch tägliches Marathontraining klar im Vorteil befindlichen Ersthelfer abzuhängen, hinein in eine dunkle Pflanzenformation, meterhohe Fichten mit den Sternenhimmel vollständig verdeckenden Kronen, ein unendlich erscheinender Wald, der beeindruckender und angsteinflößender funktionierte als in allen Modefilmen und skandinavischen Elektromusikvideos, wo die Leute immer in fetzigen Kostümen durch die Dunkelheit latschen und der ausgedachte Rahmen dafür beispielsweise eine Krankheit ist, die das Blut grau werden lässt und eine derartige Apathie bei ihnen auslöst, dass sie zurück in die Natur müssen und da mit Glitzerpuder bestäubt in Ekstase geraten, oder Kinder in Piratenkostümen machen sich da auch immer gut, schön in Slow Motion abfilmen, wie die Edeltannen hochklettern, damit dem Regisseur die Möglichkeit gegeben wird, zu heucheln, er wolle damit eine Stellungnahme zum hochinteressanten Thema »Pubertät« erzielen. Egal. Kai fürchtete sich jedenfalls nicht im Geringsten. Er rannte und betrachtete seine Lungenschmerzen als lapidar, bis seine Beine wegknickten und er hustend in einem Matschhaufen liegen bleiben musste. Er drehte sich auf den Rücken, dachte an die Delfine, bedeckte sein Gesicht mit den Händen und fing an zu weinen.
     
    Er wurde geweckt von kommunikativen Lautäußerungen, die längst keine mehr waren. Vielmehr eine durchdringende Mischung aus Panik, Verzweiflung und Kapitulation. Er spürte seine Beine nicht mehr. Von weitem sah er die Umrisse gebeugter Wesen auf sich zukommen, deren Schreie immer lauter wurden. Es waren Hunderte, einige wenige humpelten, die meisten krochen langsam auf allen vieren oder zogen mit den Armen ihre zerfetzten Rümpfe hinter sich her, alle paar Meter gab eines von ihnen auf und blieb reglos im Laub liegen. Je näher diese Meute träge umherirrender Organismen ihm kam, desto mehr bestätigte sich seine Angst, dass es sich um Menschen handelte und er Teil dieser Verdammnis war. Blutig entstellte Menschen mit halbverwesten Gesichtern, deren Kleider durchnässt und zerrissen waren und von dunklen Malen überzogenes Fleisch offenbarten, er blickte an sich runter und sah Maden an sich nagen. Blattförmige, gabelig gespaltene Riesenwürmer, durch deren milchig durchsichtige Haut ihre sich mit seinem Blut
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