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Jage zwei Tiger

Titel: Jage zwei Tiger
Autoren: Helene Hegemann
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letzte Woche auf dem Weg nach München, in Binkys Alfa Romeo. Des Kindes Vater scheint dort zu wohnen, und sie musste arbeiten beim Event irgendeines Modeblogs, wo mal wieder zwei aus bayrischen Kaffs stammende Pseudo-Larry-Clarks versucht haben, Christiane F. nachzuspielen, als Fashionstatement also kleine Upperclassgirls in mit roter Farbe gesprenkelte Neubauzimmer stellen und dann abfotografieren, wie eine von denen gerade ne Spritze wegwirft, im Hintergrund am besten noch das Wort »Sex« mit Lippenstift auf ne rohe Betonwand geschmiert. Ganz so schlimm war es wahrscheinlich nicht, trotzdem. Es ging um die in diverse undefinierte Undergroundrichtungen getrimmte Aufpolierung eines Turnschuhlabels, alles supersick, diese inszenierte millionenschwere Guerilla-Idee von Coolheit.
    Kai sollte einfach seinen Vater sehen dürfen, der offenbar ein Arschloch ist und reich, weshalb Binky Schweiger, wie wir alle wissen, völlig unterbezahlt, wollte, dass er ihrem gemeinsamen Kind dessen größten Wunsch finanziert: drei Wochen Hawaii und dort mit Delfinen schwimmen. Stilecht. Irgendwo hinter Leipzig auf der Autobahn passierte dann die große Scheiße, nämlich dass Binky unter einer Brücke durchfuhr und genau in diesem Moment ein Vierergespann hysterischer Realschüler auf Jägermeister die glorreiche Idee hatte, einen großen Felsbrocken, nicht unbedingt Felsbrocken, aber zumindest einen großen Stein auf die Autobahn zu schmeißen. Thomas, Nina, Jonas und ein Mädchen, dessen Namen die drei anderen vergessen hatten, kamen gerade aus der Kanubau- AG , waren da alle zehn Minuten aufs Klo gegangen, um sich als Rebellion gegen das Schulsystem auf der Toilette zu besaufen und gegenseitig zu beleidigen – also ein relativ simpler Vorgang. Stein knallt durch Windschutzscheibe direkt auf Binky Schweiger drauf. Das Auto bleibt nicht sofort stehen, sondern rast mit dieser erschlagenen Mutter am Steuer, das dementsprechend außer Kontrolle geraten ist, noch durch die Leitplanke auf ein Stück Wiese, um dort dann endlich anzuhalten.
    Hardcore, oder? Aber irgendwie auch geil.
    Kai auf der Rückbank, das Ganze hatte ihm natürlich die Sprache verschlagen. Binky lag blutüberströmt über das Steuer gebeugt, ihre Hose war durchnässt, ein Arm in schrägem Winkel irgendwo eingeklemmt. Es dauerte ungefähr dreißig Minuten, bis ein kleiner Ford Fiesta aus der anderen Richtung auftauchte und anhielt. Zwei Mittzwanziger stiegen aus, eine Frau (Tiermedizinstudentin) und ein Mann (lustigerweise Gründer einer Erste-Hilfe-Kurs-Institution am Alexanderplatz, konzipiert für Menschen, die ihren Führerschein machen wollen, aber keinen Bock haben auf Stuhlkreise und sich die Ersthelferscheiße dann vier Stunden beaufsichtigt vor nem Computerprogramm eintrichtern lassen können). Die beiden rannten auf das Auto zu. Kai versteckte sich im Fußraum und gab die komplette Zeit über keinen Laut von sich, weshalb sie ihn zuerst nicht bemerkten, sondern nur Binky nach draußen zerrten, in einer Mischung aus Sensationsgeilheit und Überforderung angesichts des ersten als solches zu bezeichnenden Dramas in ihrem Leben – der Typ so: »Okay, stabile Seitenlage nur, wenn noch irgendwo ein Herzschlag zu lokalisieren ist.« – »Glaubst du, es gibt hier in der Nähe ne Tankstelle mit nem Defibrillator?« – »Nein. Wir müssen sie wiederbeleben, ruf einen Krankenwagen.« – »Wenn du einmal am Patienten dran bist, kommst du da nämlich nicht mehr weg, ist das nicht so? Ist das nicht so ein Psychoding, wo man zurück auf den Trip des natürlichen eindimensionalen Denkens des Tieres, das man mal gewesen ist, geführt wird und nur noch geradeaus kann?«
    »Ein andermal, Franziska.«
     
    Innerhalb der nächsten fünf Minuten wurde einige Meter vom Auto entfernt über Binky Schweiger gebeugt herumgenuschelt, Kai konnte nicht genau verstehen, worum es ging. Er erinnerte sich an seinen letzten Traum, in dem er und Binky und alle Leute, die die beiden kannten, vorgekommen waren, Kai hatte einen Vampir und einen Geist gesehen, aber das Element, das ihm den größten Schrecken eingejagt hatte, war seine sich im strömenden Regen zu einem Dinosaurier mit Schuppenkamm entwickelnde Mutter, die mit einer Axt versuchte, ihr eigenes Grab auszuheben. Schlagartig wurde eine esoterische Mega-Ebene zu seinem Bewusstsein dazuaddiert, er alterte in dem Moment der Feststellung seines bedeutenden Verlusts um fünf Jahre, beschloss in seinem neu gewonnenen Reflexionsvermögen,
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