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Jage zwei Tiger

Titel: Jage zwei Tiger
Autoren: Helene Hegemann
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Überlebensinstinkt, Stöcke zu sammeln und Ausschau zu halten nach Brombeerbüschen und weggeworfenen Getränkedosen, allerdings nur fünf Minuten lang, dann überwog wieder die Verzweiflung, und er setzte sich vollkommen kraftlos in den Matsch, um dort im Schneidersitz hospitalistisch vor und zurück zu schaukeln. Kai biss sich ziemlich in den Arsch. Er hatte den von der evangelischen Kirchengemeinde angebotenen Pfadfinderclub damals bereits nach der ersten Stunde verschmäht, weil da eh nur alle im Hinterhof im Kreis hatten stehen müssen und Aufgaben gestellt worden waren wie: Der, der am schnellsten Klopapier gefunden und seine Gruppenkollegen damit eingewickelt hat, kriegt ein Diddlblatt zur Belohnung. Bei schlechtem Wetter wurden die Kinder nach drinnen gesetzt und bekamen Weltkugelmandalas, die zu esoterischer Hintergrundmusik von außen nach innen ausgemalt werden sollten. Der Entspannung wegen. Wie zur Hölle konnte es in einer Institution für Survivaltraining bloß um Scheißentspannung gegangen sein, fragte er sich. Wozu hatte er sich im Biologieunterricht stundenlang mit der Bandscheibe des mexikanischen Stirnlappenbasilisken beschäftigt, wozu Kinderkrimis im Fernsehen gesehen mit der moralischen Schlussfolgerung »Fairness siegt«, wozu war es gut für ihn, jetzt, Tischtennis spielen gelernt zu haben oder die vernünftige Herangehensweise an Strukturen auf Mathematikarbeitsblättern, verdammt, statt vorbereitet worden zu sein auf das sich im Moment einstellende Level von Verlust, Verlorenheit und Radikalität, der alles, was ihm bisher begegnet war an Informationen und Lifestylekonstrukten, außer Kraft setzte?
    Die Barriere, die man Respekt vor der Gesellschaft nennt, brach gerade ein für alle Mal zusammen, Kai stand auf, wischte den Dreck von seiner Hose, spuckte in die Hände und fuhr sich damit mehrmals durchs Gesicht, um die Spuren seiner bisherigen Odyssee zu beseitigen. Dann rannte er in die Richtung, in die die Zirkusleute gegangen waren.
     
    Zwei Stunden später erfolgte die Erkenntnis, dass er im Kreis gelaufen und wieder an dem Seeufer angekommen war, wo er die Ziege getroffen hatte. Inzwischen waren die Gitter und Masten jedoch weg, nur noch die zerrissene Plane lag da. Von weitem hörte er ein definitiv durch Menschenkörper erzeugtes Rascheln im Gebüsch, Klirren von Metallstäben und eine tiefe Stimme die Songzeile»Motherfucker, it’s a perfect crime« singen, Guns N ’ Roses,1991 , das Use Your Illusion -Album, völlig durchgeballert. Als Kai vorsichtig den Geräuschen folgte, sah er plötzlich Pascal wieder, die Metallzäune lässig unter beide Arme geklemmt, die Leine der Ziege an seinem Gürtel festgebunden.
    Mit unbeholfenen, aus Indianerfilmen abgeguckten Schleichskills heftete Kai sich sozusagen an Pascals Fersen, eine halbe Stunde lang, bis sie an einem von Grasflächen umrandeten Sandplatz ankamen. In dessen Mitte wurde gerade das Zirkuszelt abgebaut. Es hatte dieselben Farben wie die Stallung am Ufer, Rot und Blau mit weißen Sternen und gefühltem Platz für 600 Personen, 450 Quadratmeter groß, fünfmastig. Mehrere Männer schrien sich Dinge zu, schraubten riesige Haken aus der Erde, kletterten die diagonal zur Zeltspitze hinaufführenden Spannseile hoch, um Schrauben zu lockern oder die Dachplanen aufzurollen. Um das Zelt herum standen Wohnwagen, der größte von ihnen hatte eine Terrasse, von der aus zwei kleine Kinder in Badeanzügen Miniaturhelikopter fernsteuerten. Dort, wo mal die Manege gewesen war, lagen nur noch Sägespäne. Die Frau, die Kai mit Pascal am See gesehen hatte, fegte die Späne zusammen, die anderen sammelten Klappstühle ein und zerlegten Sitztribünen, um sie in einen von drei riesigen schwarzen Lastern zu tragen, die hinter den Wohnwagen standen. Es waren acht Menschen, die routiniert ihre Aufgaben durchzogen und währenddessen in keiner Weise wirkten, als wollten sie je eine Form der Selbstverwirklichung anstreben, die über die Zugehörigkeit zu diesem System hinausging. Wo man auch hinsah, zeichneten sich unter Trainingsanzügen Muskelstränge ab, derentwegen Kais Mutter jahrelang vergeblich Geld für Pilates ausgegeben hatte. Und all diese Leute wirkten verwandt, durch ihre dicken, schwarzen Haare, die Haut einen Ton dunkler als der mitteleuropäische Standard und dazu dann helle Augen, natürlich auf Kai eine Wirkung ausübend, die ihn, zwischen der üblichen sich unter Empathiefassaden tarnenden Asozialität, umhaute.
    Abgesehen von
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