Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gabriel oder das Versprechen

Gabriel oder das Versprechen

Titel: Gabriel oder das Versprechen
Autoren: Wolfgang Voosen
Vom Netzwerk:
 
    1
    Gabriels Wohnung, Donnerstag, 7.
Mai, 6.30 Uhr
    »Gott, mein Herr und Gebieter!
Endlich hast du mich erhört. Gezweifelt habe ich nie an dir! Aber
Einsamkeit hat mich umhüllt in der Zeit deines langen Schweigens.
Sie ist vorbei. Ich warte auf dein Wort. Hinzugehen und zu
vollenden, wozu du mich auserwählt hast. Mich, deinen treuen
Diener!«
    Es war ein Dankgebet, das Gabriel im
Antlitz des gekreuzigten Sohn Gottes gen Himmel sandte. Jesus hing
am Kreuz über dem Altar, den Gabriel sich am Ende des langen Flurs
errichtet hatte. Täglich kniete er vor dem Altar nieder. Den Tag
ohne ein Gebet hier kniend zu beginnen, war ihm
unvorstellbar.
    In den beiden Nächten zuvor hatte
Gabriel wach gelegen, kaum ein Auge zu getan. Morgens fühlte er
sich müde und kaputt. In seinem Kopf nur Leere. Ausgelaugt.
Verstoßen. Es waren die Zweifel, die ihn nicht zur Ruhe kommen
ließen. Die Zweifel an Gott, seinem Herrn. Die Zweifel an sich
selbst. Die Zweifel, ob Gott ihn erlösen werde. Immer wieder hatte
er ihn angefleht, er möge ihm ein Zeichen senden. Und jetzt endlich
hatte Gott des Nachts zu ihm gesprochen, wie Jehova einst zu Jakob:
»Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei
deinem Namen gerufen, du bist mein.« Und dann hatte er ihm im Traum
das Zeichen gesandt: Schwefel und Feuer regneten auf die Stadt
herab. Und aus den Trümmern, aus Schutt und Asche, entfaltete sich
die weiße Lilie. Shushan - die Blume des Todes, die Blume der
Reinheit, die Blume der Unschuld.
    »Gott, mein Herr und Gebieter. Du
hast mir endlich gesandt das Zeichen, auf das ich so lange schon
gewartet: Die Lilie inmitten der Dornen. Die Unschuld erwächst aus
den Trümmern. Ich werde tun, was du mir geheißen hast. Auch wenn
Sodom untergehen wird, sollen Lots Töchter auferstehen. Ihre Sünden
werden durch den Tod gesühnt, auf dass sie ihre Unschuld wieder
erlangen.« Gabriel nahm das Faustmesser, das - einer Hostie gleich
- auf einem dunkelroten Samtkissen in der Mitte des Altars lag, in
beide Hände. Er hob es in Richtung des Gekreuzigten, schloss seine
Augen und berührte es mit seinen Lippen.

 
    2
    ›Focus-Versicherungs-AG‹, Freitag,
8. Mai, 16.20 Uhr
    »Ciao, Markus«, verabschiedete sich
Niko von seinem Kollegen, mit dem er das Büro teilte. »Für mich ist
heute Schluss, sonst komm ich noch zu spät. Muss auf jeden Fall
noch duschen!«
    »Geht klar. Länger als eine halbe
Stunde bleib ich auch nicht mehr. Viel Glück, toi-toi-toi.
Vielleicht klappt's ja und du lernst endlich mal jemanden kennen«,
entgegnete Markus. »Und steh deinen Mann, wenn's Ernst
wird!«
    »Worauf du dich verlassen kannst! Da
mach dir mal keine Sorgen um mein Steh-auf-Männchen. Allzeit
bereit!« Niko war eher zurückhaltend, wenn es darum ging, jemanden
kennen zu lernen. Wenn im Freundeskreis allerdings das ›Thema
Frauen‹ angeschnitten wurde, hielt auch er sich mit Macho-Sprüchen
nicht zurück.
    »Dann bis morgen beim Frühstück
…vielleicht ja zu dritt!«
    *
    Niko und Markus hatten nach dem
Abitur bei ihrem jetzigen Arbeitgeber, einem großen
Versicherungskonzern, in der Hauptverwaltung in München ein
Trainee-Programm durchlaufen und waren zeitgleich vor knapp drei
Monaten für einen begrenzten Zeitraum in die Filialdirektion nach
Wuppertal versetzt worden. Sie bewohnten für diese Zeit gemeinsam
eine kleine firmeneigene Wohnung in der Ziegenburg 3, unterhalb der
Hardt gelegen, ganz in der Nähe ihres Arbeitsplatzes. Markus Huber
war zuständig für eine geplante Umstrukturierung und Niko Altmann
sollte den Außendienst der in Nordrhein-Westfalen gelegenen
Außenstellen für etliche neu eingeführte Sachversicherungs-Produkte
schulen.
    Er beeilte sich, obwohl ihm bis
sieben Uhr eigentlich ausreichend Zeit blieb. Aber er war - wie vor
jedem Treffen - ein wenig aufgeregt. Mit seinen 1,80 Meter, seinem
muskulösen, durchtrainierten Körper und seiner freundlichen Art,
mit der er anderen begegnete, galt er bei seinen Freunden als der
›nette Schwiegersohn von nebenan‹. Im Winter fuhr er Ski und im
Sommer segelte er regelmäßig, so dass sein Gesicht das ganze Jahr
über seinen dunklen Teint nie ganz verlor. Seine wachen grau-grünen
Augen signalisierten Offenheit und Herzlichkeit. Das dunkelbraune,
leicht gelockte Haar trug er kurz geschnitten, wie es der
augenblicklichen Mode entsprach. Doch trotz seiner inzwischen 23
Jahre wollte es mit einer ernsthaften Beziehung immer noch nicht so
richtig klappen. In München hätte er
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher