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Jage zwei Tiger

Titel: Jage zwei Tiger
Autoren: Helene Hegemann
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entdeckte selbigen dann auch relativ schnell, erstaunt zwar, aber unerwarteterweise ohne einen Schrei auszustoßen oder ohnmächtig zu werden. Kai wusste nicht, was er hätte erwidern sollen auf diesen empörten Blick, also blieb er still liegen. Je näher sie ihm kam, desto schwerer wurde sein Atem. Sie ging auf ihn zu wie auf ein verletztes Tier, vorsichtig und mitleidig. Sie war kaum erstaunt. Sie gehörte zu einer Gruppe von Jugendlichen, die am Tag zuvor eine Frau getötet hatten. Und sie spürte, dass der Junge der Sohn dieser Frau war.
    Samantha hockte sich neben ihn, starrte ihm lange in die Augen und fragte dann, eher als Übersprungshandlung und weil ihr nichts anderes einfiel, ob er Hunger habe. Kai zuckte, so gut er das in seiner Position hinkriegte, mit den Schultern und kam sich dabei irre bescheuert vor. Sie stand auf und rannte weg, um einige Minuten später völlig außer Atem mit einem riesigen Teller Frikadellen und Kartoffelbrei zurückzukommen, eine Wasserflasche unter den Arm geklemmt. Sie half Kai, sich aufzurichten und etwas zu trinken. Dann versuchte er (der selbst in diesem dramatischen Zustand aufrechterhaltenen Höflichkeit wegen), ein Stückchen Fleisch zu essen, er kriegte es irgendwie runter, auch zwei weitere, bis er plötzlich würgen musste, sein Körper wurde von ihn vollkommen überanstrengenden Rachenraumkontraktionen durchschüttelt, unaufhörlich, bis er nach und nach alles ausgekotzt hatte, was sein Exzess so hergab an Widerlichkeiten. Er empfand nichts anderes mehr als Verwunderung darüber, dass Samantha nicht angeekelt weggesprungen, sondern neben ihm sitzen geblieben war und jetzt, mit der verbundenen Hand, seinen Kopf tätschelte. Er wollte nett sein, weil er sie so unglaublich nett fand, und keuchte eine ziemlich lässig wirkende Frage danach hervor, was mit ihrer Hand passiert sei.
    »Ach«, seufzte sie, in ebenfalls eher unverhältnismäßigem Tonfall, »ich bin so scheiße mit dem BMX -Rad von meinem Bruder den Hügel da hinten runtergefahren, und ich wusste aber nicht, dass es keinen Rücktritt hat, und die Vorderbremse war auch kaputt, und dann konnte ich nicht anhalten und hab mich über diesen grünen Zaun sozusagen ü berschlagen und bin in einen Brennnesselbusch gefallen, da lag halt so eine Art Scherbe drin.«
    »Du bist in der Scherbe gelandet, mit der Hand?«, fragte Kai.
    »Ja, das tat arschweh. Und weißt du was? Ich glaube sogar, dass die Scherbe bis in den Knochen gegangen ist. Das sind keine wirklichen Schmerzen mehr, aber es fühlt sich auch nicht so richtig normal an, irgendwie, keine Ahnung, tiefer als sonst, eklig, kannst du dir das vorstellen?«
    Kai antwortete: »Wahnsinn«, das hatte einer der ehemaligen Boyfriends von Binky Schweiger immer getan, wenn er gerade mal keine komplexe theoretische Erwiderung am Start gehabt hatte. Samantha setzte sich aufrecht hin und fing an zu weinen.
    »Das stimmt gar nicht«, schluchzte sie. Und Kai brauchte nicht zu fragen, was Samantha damit meinte, sie redete einfach weiter.
    »Ich habe eine Katze. Und diese Katze hat mich immer gemocht, nur heute hat sie mich gebissen. Ich habe ihr ins Gesicht geguckt, und sie sah mich an wie ne Ausgeburt der Hölle, und ich glaube, das war ich, in ihrem Blick, wenn du dir was darunter vorstellen kannst, und ich weiß nicht, was ich mit dieser Feststellung anfangen soll, aber ich glaube, sie musste das tun.«
    Kai hatte das dringende Bedürfnis, ihr vom Tod seiner Mutter zu erzählen. Aber seine Stimme versagte, und er konnte seine Augen kaum noch offen halten. Verschwommen nahm er einzelne Episoden von Samanthas Versuch wahr, ihn über den Platz zu ihrem Wohnwagen zu hieven, die nächste konkret von ihm realisierte Situation bestand darin, dass er im unteren Teil eines Doppelstockbettes lag, an ihm vorbei kletterten gerade die beiden Kinder weinend in ihren Badeanzügen eine Leiter hoch, während Samantha ihnen laut keifend einbläute, niemandem von Kai zu erzählen. Dann legte sie sich zu ihm, mit dem Kopf auf seinen Arm, was ihm ziemlich weh tat, aber er sagte nichts. Samanthas Weinen entwickelte sich zu einem bitterlichen Schluchzen, es war nicht zu fassen. Obwohl Kai etwas Derartiges noch nie erlebt hatte und völlig geplättet war von diesen hochinteressanten und unerklärlichen Zusammenhängen, konnte er sich nicht wehren gegen eine alles überblendende, furchteinflößende Müdigkeit, die ihn niederdrückte zusammen mit der absurden Mischung aus Glück und Gefahr, die
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