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Jage zwei Tiger

Titel: Jage zwei Tiger
Autoren: Helene Hegemann
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er gerade zu empfinden begann, und er schlief ein, in dem Wissen, dass es das Falscheste war, was er tun konnte.

 
     
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    Kai wachte auf in der Unfallchirurgie eines Zehlendorfer Krankenhauses. Selbstverständlich wusste er das nicht. Er sah eine aus grauen Vierecken zusammengesetzte Deckenfläche, hörte ein Piepen, das ihm aus der Intensivstation-Folge seiner TKKG -Hörspiele bekannt vorkam, und schwere, sich von ihm entfernende Schritte. Er bewegte seinen Kopf ein Stück nach rechts, was ihm sofort einen Schwindelanfall einbrachte, und erkannte den Rücken seines Vaters, der gerade das Zimmer verließ. Es störte ihn nicht. Das Einzige, was er empfand, war Verblüffung darüber, wie kalt und wie wenig schockiert oder traurig er war angesichts der bisherigen Ereignisse.
     
    Er war angeschlossen an gewaltigste Maschinen, okay. Folgerichtig. Links von ihm war ein gelber Vorhang, durch einen Spalt konnte Kai einen schlafenden Jungen in seinem Alter sehen und dessen an seinem Bett sitzende Eltern, völlig aufgelöst, die Augen des Jungen waren mit Pflastern überklebt, beide Arme eingegipst, die freiliegende Haut mit Blutergüssen übersät. Komischerweise fühlte sich Kai relativ wohl, er hatte sich nach den Horrorstorys seiner Mutter Krankenhäuser als Schweineställe vorgestellt. Binky Schweiger hatte als Kind nämlich angeblich einen Skiunfall gehabt und ständig davon erzählt, wie sie wochenlang in einem österreichischen Dreißigbettzimmer mit alten, entweder furzenden oder ihrem Leben hinterherröchelnden Frauen hatte verbringen müssen, ohne aufs Klo gehen zu können, und jeden Tag gab es absoluten Quatsch zu essen. Er realisierte, dass er an seine Mutter dachte und nicht den geringsten Impuls hatte zu weinen. Stattdessen blitzte eine Erinnerung an das blonde Mädchen auf, das ihn anlächelte und hysterisch zu schreien anfing und sich währenddessen zu einem in seiner Hässlichkeit gleichermaßen grauenhaften und vereinnahmenden Schlangenkopf entwickelte, vollkommen überdimensional, Kai kniff die Augen zusammen, aber das Bild verschwand nicht, es nahm alle Ebenen seiner Realitätswahrnehmung ein. Er wollte schreien oder aufstehen oder irgendwas unternehmen, doch bei der geringsten Bewegung seines Körpers löste sich das, was er als sein Selbst betrachtete, plötzlich von diesem Körper ab und fing aus unerklärlichen Gründen an zu schweben, in irgendwelche bedrohlich aufflammenden Sphären hinein. Die eine Hälfte seines Bewusstseins befand sich jenseits eines ihm sein Leben lang eingetrichterten Empfindens von Zeit und Raum, er spürte verschiedene Zungen in seinem Mund, mehr und mehr befreite sich sein ramponiertes Ich aus den Zwängen seines Körpers und versetzte sich in einen autonomen Zustand, als würde es endlich die Vielschichtigkeit dieser Welt erkennen wollen. Sein Herzrasen hatte sich bis zur Explosion gesteigert, auf deren Detonationswelle er sich befand, jetzt also erst mal schön eine undefinierbare Weile lang den in alle Himmelsrichtungen geschleuderten Fettschichten seiner Herzkranzgefäße dabei zusehen, wie sie zu brennen begannen, seine Arme fielen ab, seine Wimpern fielen aus.
    Gleichzeitig konnte Kai erschreckend klar erkennen, was mit seinem Körper im Krankenbett geschah, der sich schreiend, bettelnd, gewalttätig und eher an ein Tier erinnernd, Geräusche von sich gebend, die man einer Horde Wildschweine zutraute und keinem präpubertären Jungen, gegen vier weißgekleidete Krankenhausangestellte wehrte.
    Eine Überblendung, weniger sanft als in elektronisch arrangierten Mix- CD s, ein rabiater Sprung in einen Zustand, in dem keinerlei vorgefertigte Entwürfe oder Gesetzmäßigkeiten mehr existierten. Auf der einen Seite also eine Energieform, die Kai in hoher Geschwindigkeit durch mehrdimensional pulsierende, von einem kleinen Licht in der Ferne ausgesandte Wellen trieb, ab und zu unterbrochen von Blitzen und einer komplexen, schattenhaften Struktur aus unbestimmbaren Partikeln, vermischt mit der Volumenausdehnung seiner Organe. Auf der anderen Seite seine stechende, farbintensivierte Sicht auf das, was da abging in diesem Krankenhauszimmer. Allen Ernstes von der an der Decke befestigten Halogenlampe aus. Das wurde ihm erst jetzt klar (und er hätte herzlich darüber gelacht, wären die dafür benötigten Muskelgruppen in Reichweite gewesen) – er befand sich auf dieser beknackten Lampe und konnte sogar lesen, was auf deren Rückseite stand, die Herstelleradresse mit
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