Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Jage zwei Tiger

Titel: Jage zwei Tiger
Autoren: Helene Hegemann
Vom Netzwerk:
frühen Kindheit, damals hatte er eine Trickserie gesehen über ein Sportinternat in Manchester, da war das halt irgendwie vorgekommen.
    Sein Vater reagierte nicht.
    Er fragte noch mal: »Papa, was ist eine Städtepartnerschaft?«
    Keine Reaktion, nur konzentriertes Starren auf die Zeitungsseiten. Kai fragte ein drittes und ein viertes Mal und stand dann auf, um seinem Vater auf die Schulter zu tippen, der erstaunlicherweise noch immer nicht antwortete. Die Zimmertür war offen, alle vier Sekunden hechtete gestresstes Krankenhauspersonal an dem Raum vorbei. Durch des Vaters verschränkte Sitzhaltung war dessen Hosenbein ein Stück nach oben gerutscht, und weil ihm das irgendwie vorkam wie eine folgerichtige Handlung, spuckte Kai auf seinen nackten Unterschenkel. Sein Vater stieß einen unkontrollierten Schrei aus, ließ die Zeitung fallen und trat Kai so rabiat von sich weg, dass er nach hinten und mit dem Kopf gegen das Eisengestell seines Bettes knallte. Aufs Äußerste erschüttert wischte der Vater sich die Rotze mit einem Stück Gardine ab, beugte sich über seinen Sohn und brachte folgende zwei Sätze hervor: »Spinnst du? Hast du den Arsch offen?«
    Woraufhin selbstverständlich eine Krankenschwester ins Zimmer rannte, Kai lag immer noch auf dem Boden, es tat ihm zwar nichts weh, aber es gab auch keinen konkreten Grund, aufzustehen, sie erkundigte sich in einer selbstverständlichen Pseudobetroffenheit, was vorgefallen sei, und half Kai auf die Beine, während sein Vater nur sagte: »Hier ist rein gar nichts vorgefallen, abgesehen davon, dass mir ein zwölfjähriger Junge aufs Schienbein gerotzt hat«, Kai daraufhin, vor durch diesen körperlichen Angriff freigesetzter Wut schossen ihm Tränen in die Augen, gleichzeitig war er aber auch ziemlich triumphal am Start: »Ja, weil du nämlich voll nicht gehört hast! Du hast angefangen!« – »Was habe ich nicht gehört? Womit habe ich angefangen?« – »Kannst du mal bitte aufhören, so einen Scheißstress zu machen immer?« – »Nein, kann ich nicht.« – »Doch, Papa! Warum musst du hier immer so viel Scheißstress machen?« Vater (zur Krankenschwester): »Er ist verrückt geworden.« – und die Krankenschwester natürlich so kontrolliert empört und Kai dabei auf die Schulter klopfend: »Das ist noch lange kein Grund, ihn körperlich anzugreifen!«
    Kais Vater war genervt und riss das Fenster auf, hinter dem nichts anderes abging als schlecht beleuchteter horizontaler Aschebrei, wir befinden uns in Brandenburg.
    »Irgendwas stimmt hier nicht. Ich meine, ich kann doch keinem halberwachsenen Menschen ungestraft irgendwelche Gesten der Geringschätzung durchgehen lassen, und dann kommt da plötzlich ne Krankenschwester und schreit: ›Misshandlung, Misshandlung!‹ Und du hör jetzt bitte auf zu heulen, Kai, zieh hier bloß keine Show ab, du bist ganz definitiv derjenige, der angefangen hat mit der Scheiße.«
    »Werfen Sie Ihrem zwölfjährigen Sohn gerade wirklich vor, er hätte mit irgendwas angefangen ?«
    »Ja, mein Gott, weil es sich bei meinem Verhalten weder um körperliche Gewalt noch um unberechenbare Scheißzüge handelt, sondern um einen folgerichtigen Reflex auf eine zutiefst inadäquate Aktion, durchgeführt von einem Menschen, den ich zu ernst nehme, um ihn nicht zu kritisieren für so einen Mist.«
    Die Krankenschwester fing an zu grübeln, und Kais Vater fuhr fort:
    »Ehrlich. Kai, du bist mein Sohn und du bist weit unter achtzehn, und es tut mir leid, aber ich werde dich hier keinesfalls wie ein auf Rücksichtnahme angewiesenes Kindergartenkind behandeln. Ich kann das nicht. Ich kann nicht morgens um sechs aufstehen, um dir Schulbrote zu schmieren, ich kann nicht irgendein für dich geeignetes Fernsehprogramm zusammenstellen und darauf achten, dass du nicht länger als zwei Stunden pro Tag vor der Glotze sitzt. Ich kann dir nicht bei Mathehausaufgaben helfen, und ich werde dich nicht davon abhalten können, in vier Jahren oder weiß der Teufel wann Drogen zu nehmen. Ich will auch nicht lernen, wie so was geht, verantwortungsbewusstes Handeln, da muss ich ehrlich sein, auch zu mir selbst. Und das klingt schrecklich und asozial, weil die liebende Fürsorge von Eltern immer als natürliche Gegebenheit vorausgesetzt wird von ausnahmslos allen Parteien. Aber als ich deiner Mutter begegnete, damals, wusste ich, dass ein aus diesem durchgeballerten Aufeinandertreffen zweier so unterschiedlicher Menschen entstandenes Kind später nicht einfordern
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher