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Von der Liebe verschlungen

Von der Liebe verschlungen

Titel: Von der Liebe verschlungen
Autoren: Delilah S. Dawson
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1.
    I ch weiß nicht, was mich mehr anzog: seine Musik oder sein Blut. Gefangen im Dunkel und geschwächt bis an die Schwelle des Todes, erwachte ich, nur um ihn auszusaugen bis auf die Seele, bis seine Noten und sein Blut bis auf die letzten Tröpfchen in meine Adern fließen würden. Wer auch immer er war, er war mein Untergebener, meine Beute, und sein Leben gebührte mir. Wozu ist man schließlich Prinzessin, wenn man seine Untertanen nicht erlegen darf?
    Sein Blut war gewürzt mit Wein, so viel konnte ich erkennen. Während ich der Musik zuhörte und mich zwang, ruhiger zu atmen und mein Herz wieder zum Schlagen zu bringen, ging mir auf, dass ich das Lied, das er spielte, gar nicht kannte. Es war keines der frostländischen Schlaflieder meiner Kindheit, und auch nichts, was bei Hofe gefragt war. Ich konnte sogar das Geräusch seiner Fingerspitzen hören, die über die Tasten strichen, und das, ohne dass es durch Seidenhandschuhe gedämpft wurde. Eigenartig. Kein Wunder, dass ich ihn riechen konnte, wer auch immer er war – er schützte seine köstliche Haut nicht vor der Welt. Vor mir.
    Er hörte auf zu spielen und seufzte, und meine Instinkte übernahmen die Kontrolle. Ich stürzte mich auf diesen berauschenden Duft. Aber mein Versuch, zuzuschlagen, wurde schmerzhaft vereitelt durch … etwas. Leder. Ich war gefangen, eingesperrt in einem Kasten und darin zusammengerollt zu einem Ball, Kehrseite nach unten. Als er wieder zu spielen begann, ließ ich meine Hand seitwärts an das muffige Leder wandern. Mit einer meiner bösartigen Klauen begann ich, mir einen Weg nach draußen zu bahnen.
    Ein winziger Lichtstrahl fiel herein, in düsterem Orange. Frische Luft drang an mein Gesicht, und damit sein Duft. Es erforderte jedes Quäntchen der mir so mühsam anerzogenen Geduld, still und reglos zu bleiben, und nicht wild zu strampeln und herumzutasten, um mich zu befreien aus was immer mich da gefangen hielt wie einen Kraken aus der Tiefe. In meinen Gedanken erklang die Stimme meiner Mutter, in ihrem unverkennbaren königlichen Tonfall.
    Lautlosigkeit. List. Schnelligkeit. So bringt man dem Feind den Untergang, Prinzessin. Du bist das Raubtier der Raubtiere. Die Königin der Bestien. Jetzt töte ihn. Langsam.
    Meine Fingernägel waren überlang gewachsen und schärfer, als bei Hofe in Mode war, und so fiel der Rest des Leders in einem langen Stück ab. Ich hob die Klappe mit einer Hand an und spähte vorsichtig hinaus.
    Es war ein Raum mit hoher Decke und Holzfußboden; er war düster und fast leer. Stühle mit spindeldürren Beinen standen auf runden Tischen. Gegenüber, beleuchtet von einem orangefarbenen Gasscheinwerfer, befand sich eine Bühne, und auf dieser Bühne stand ein Cembalo, und an diesem Cembalo spielte mein Mittagessen.
    Als ich ihn dort sah, zog sich die Prinzessin zurück, und die Bestie übernahm das Regiment. In Kauerhaltung, die Finger zu Klauen gekrümmt, schlängelte ich mich durch das Loch aus diesem Kasten hinaus, ohne den Blick von meiner Beute zu wenden. Er hatte die Kreatur, die aus den Schatten Jagd auf ihn machte, noch nicht bemerkt. Seine Augen waren geschlossen, und er sang etwas Schwermütiges, irgendetwas über jemanden namens Jude. Ich war nicht Jude, also spielte es keine Rolle.
    Der kultivierte Teil meines Gehirns registrierte kaum, dass ich hochhackige Schuhe und raschelnden Taft trug. Ich war sehr gut in der Lage, in meinen besten Kleidern zu schleichen, schließlich tat ich das schon seit meinen Kindertagen in Leinenschürzchen mit Hermelinkragen. Während ich in den Schatten an der Wand entlangschlüpfte und in Richtung Bühne glitt, pochte der Hunger in mir, im Takt zu meinem Herzschlag und seinen langsamen Tastenanschlägen. Es fühlte sich an, als sei ein ganzes Leben vergangen, seit ich zuletzt etwas zu mir genommen hatte. Und vielleicht war es ja so. Noch nie hatte ich mich derart ausgetrocknet gefühlt.
    Es gelang mir, den Raum zu durchqueren, ohne dabei entdeckt zu werden. Währenddessen jammerte er weiter über diese Jude, und seine rauchige Stimme war so traurig, dass sie sogar das Tier in mir rührte. Ich hielt inne, um ihn zu betrachten, hinter tiefroten Samtvorhängen, die eindeutig schon bessere Tage gesehen hatten. Aber ich sah keinen Mann. Nur Nahrung. Und in diesem Sinne präsentierte er sich mir regelrecht auf einem Silbertablett: Er lief mit offenem Hemd herum, ohne Stiefel, und auch Handschuhe waren nirgendwo zu sehen. So exponiert und mit dem Alkoholgeruch,
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