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Jage zwei Tiger

Titel: Jage zwei Tiger
Autoren: Helene Hegemann
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Zerreißen gespannt. Als sie ihr Zimmer betraten, es sah exakt so aus wie am Vortag, legte sich Cecile, ohne sich auszuziehen, aufs Bett, erzählte noch ein bisschen von den Hunden ihrer Eltern und schlief mitten im Satz ein. Kai stellte sich ans Fenster und dachte eine viertel Stunde lang über Samanthas Wimpern nach.
     
    Was er zu diesem Zeitpunkt nicht wusste und auch nicht im Geringsten ahnen konnte, war, dass er sie am nächsten Abend nicht wiedersehen, sondern nur einen leeren Schulhof vorfinden würde, auf dem nichts als ein Kreis von Sägemehlresten liegengeblieben war. Genauso wenig wusste er, dass Cecile ihm eine Woche später ihre Eltern vorgestellt haben und er selbst kurz darauf 250.000 Dollar besitzen würde. Er wusste nicht, dass Susanne seinen Vater vor wenigen Stunden mit weit geöffnetem Mund auf dem Küchenboden gefunden hatte, das linke Bein angewinkelt, den rechten Arm von sich weggestreckt, und dass ein bayrischer übergewichtiger Notarzt genau jetzt, um 21:22 Uhr, Detlevs Todeszeitpunkt auf ein Blatt Papier schrieb, um danach Feierabend zu machen und im Internet ein Indianerset von Playmobil für seinen vierjährigen Sohn zu bestellen, mit mehreren Miniaturtipis, Totempfählen und Friedenspfeifen. Kai wusste nicht, dass gerade eine obdachlose ehemalige Chemielehrerin am Münchener Odeonsplatz zwei unabhängig voneinander die Straße entlanglaufende Menschen, einen Mann Mitte vierzig und ein siebzehnjähriges Mädchen, sich in exakt denselben Bewegungsabläufen zuerst ans Herz fassen und danach zu Boden sinken sah, woraufhin sie erschrocken in den Himmel starrte, sich bei Gott für eine Bestätigung ihrer Theorie der Ausrottung der Menschheit durch sich selbst bedankte und in die Knie ging.
     
    In diesem Moment, mitten in der Nacht, wusste Kai nur, dass sich mehrere unbelohnte Jahre der Demütigung gelohnt zu haben schienen. Er war blass und erschöpft und ging ein paar Gegensatzpaare durch, die eigentlich keine waren. Missbrauch und Besessenheit, Paradies und Verbrechen, Himmel und Hölle. Und dann zweifelte er plötzlich daran, ob aus leidenschaftlicher Liebe jemals funktionierende ökonomische Modelle abgeleitet werden könnten.

 
     
    Zwei Jahre später, am 1. Mai2016 , war der Himmel so klar und blau, wie es ging.
    Vielleicht war tatsächlich ein Meteorit in die Ostsee gefallen, und eine durch ihn ausgelöste Tsunamiwelle hatte bereits die Hälfte Europas überschwemmt. Vielleicht war zwischenzeitlich der beträchtlichste Fortschritt in der Clusterphysik außer Kontrolle geraten, die Pest ausgebrochen oder schlechterdings überhaupt nichts passiert. Nur drei Dinge waren definitiv.
    Kai war sechzehn, Cecile fast einundzwanzig, und mit ineinander verschränkten Fingern standen sie vor einem winzigen, extrem niedergeschlagenen katholischen Priester. Er hatte große, dünne Segelohren, in denen man, als durch ein kaputtes buntes Fenster ein Sonnenstrahl in die Kirche fiel, sämtliche Äderchen schimmern sehen konnte. Die Trauzeugen waren ein betrunkener Punk über sechzig, der gerade auf seinem iPod Rammstein hörte, und eine Organistin im Jogginganzug, die vor Rührung bereits angefangen hatte zu weinen, als Kai und Cecile die Kapelle noch gar nicht betreten hatten. Als der Priester seine notdürftig improvisierte Rede mit der Trauliturgie »bis dass der Tod euch scheidet« beendete und sie erwartungsvoll ansah, steckte Kai Cecile einen aus Kaugummipapier gebastelten Ring an den Finger. Sie strahlte ihn an, er strahlte zurück, und dann antwortete er dem Stellvertreter aller überweltlicher Wesen: »Man stirbt nicht so leicht, wenn man jung ist.«

 
     
    Danke für massiven Einfluss an
     
    Maria Koch (geb. Neumann), Julia Späth, Leonie Hahn
     
    &
     
    Oliver Barduhn, Sibylle Berg, Sophie & Johanna Boch, Denise Booth, Anika Decker, Mara Delius, Petra Eggers, Mirna Funk, Julia Graf, Carl Hegemann, Malakoff Kowalski, Janine Ortiz, Nina Pohl, Sophie Rois, Elisabeth Ruge, Deborah Schamoni, Jan Sefzik, Willem Stratmann

 
     
    Über die Autorin
     
    Helene Hegemann, 1992 in Freiburg geboren, lebt in Berlin. 2008 wurde ihr erster Film Torpedo als Entdeckung des Jahres gefeiert und mit dem Max- Ophüls-Preis ausgezeichnet. 2010 debütierte sie als Autorin mit dem Roman Axolotl Roadkill , der in 20 Sprachen übersetzt wurde. Sie inszeniert für Theater und Oper.
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