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Jage zwei Tiger

Titel: Jage zwei Tiger
Autoren: Helene Hegemann
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augenblicklich darin, dass sie nicht auf ihrer eigenen Beerdigung würde sein können. Sie wollte nichts mehr, als Detlev an ihrem Grab weinen zu sehen. Kalt vor Wut, in einer Mischung aus Zweifel und feindseliger Sehnsucht konstatierte sie, dass sie den Rest ihres Lebens in erbitterter Einsamkeit verbringen würde.
    Wenige Minuten nach dieser niederschmetternden Erkenntnis kam Kai aus dem Speisewagen zurück, drückte ihr ein Trinkpäckchen in die Hand und ließ sich neben sie in seinen Sitz fallen. Er seufzte, guckte sie kurz an und zog dann sein Handy aus der Tasche, um seiner Klassenlehrerin am Telefon zu erzählen, er sei versehentlich in den falschen Zug ein- und weit hinter der polnischen Grenze ausgestiegen, und dass ihm drei zwei Meter große Typen sein Gepäck geklaut hätten. Cecile war beeindruckt von der Genauigkeitswut dieser Lüge, noch mehr beeindruckte sie aber, dass Kai, als er aufgelegt hatte, vor schlechtem Gewissen beinahe anfing zu heulen. Zwanzig Minuten später rief Detlev an, mehrere Male, bis Kai es schaffte, abzunehmen und dieselbe Story vor ihm zu wiederholen. Kurz darauf erhielt er eine SMS von Jonas, in der »Well done, ich bin stolz auf dich!« stand, und die nächsten Anrufe, egal ob sie von Klassenkameraden, der besorgten Lehrerin oder seinem Vater kamen, die inzwischen alle miteinander über den Verbleib des Jungen zu kommunizieren schienen, nahm er, um das ihm unerträgliche Lügenfeld zu verdrängen, nicht entgegen. Kurz bevor der Zug in Berlin einfuhr, sprach Detlev ihm jedoch auf die Mailbox, dass man gerade ca. zweihundert Polizisten mit der Suche nach ihm beauftragt habe, woraufhin Kai ihn in einer Übersprunghandlung zurückrief und ins Telefon schrie, dass alles völlig in Ordnung, er in Esslingen ausgestiegen und dort in ein Ibis-Hotel gezogen sei. Detlev atmete erleichtert aus. Cecile fragte Kai, wie zur Hölle er auf Esslingen gekommen war. »Mir ist nichts anderes eingefallen«, antwortete er. Und als Kai und Cecile gerade an einem eingestürzten, notdürftig reparierten Stahlträger des Berliner Hauptbahnhofs entlangliefen, Cecile an die Michael-Jackson-Textzeile»Here abandoned in my fame, Armageddon of the brain« denken musste und Kai sich versehentlich mit einem obdachlosen Zeitungsverkäufer darüber zu unterhalten begonnen hatte, was passiert, wenn ein zweihundert Quadratmeter großer Meteorit in die Ostsee fällt, bekam Kai von Detlev eine SMS , in der in Großbuchstaben mit zweiundzwanzig angehängten Ausrufezeichen mitgeteilt wurde, dass es in Esslingen gar kein Ibis-Hotel gab. Kai biss sich in seinen Handrücken und sprang mehrmals mit zusammengekniffenen Augen in die Höhe, als könne er durch dieses Ritual im Erdboden versinken. Cecile lachte und erzählte ihm ein paar Details aus der Jugend von Sid Vicious, verschwieg ihm jedoch, dass Sid Vicious bereits im Alter von zwanzig gestorben war. Dann stiegen sie in eine S- Bahn, in der eine Gruppe von zwanzig bis dreißig Grufti-Teenagern gerade den »Establishment Blues« von Sixto Rodriguez als eine Art phlegmatische Weltuntergangshymne performte.
     
    Garbage ain’t collected, women ain’t protected
    Politicians using people, they’ve been abusing
    The mafia’s getting bigger, like pollution in the river
    And you tell me that this is where it’s at.
    The mayor hides the crime rate
    council woman hesitates
    Public gets irate but forget the vote date
    Weatherman complaining, predicted sun, it’s raining
    Everyone’s protesting, boyfriend keeps suggesting
    you’re not like all of the rest.
     
    Die letzte Zeile, »you’re not like all of the rest«, wiederholten sie mehrere Male hintereinander, und zwar breit grinsend.
     
    Kai und Cecile verließen die Bahn nach einigen Stationen, relativ wahllos, um ein Zweibettzimmer eines innerhalb weniger Monate aus dem Boden gezogenen Pappmaschee-Hostels am Checkpoint Charlie zu beziehen. Cecile bezahlte das Zimmer in bar. Sie betraten es, Kai schmiss sich aufs Bett. Cecile ging in den Waschraum auf dem Flur. Als sie zurück ins Zimmer kam, mit einem um ihren Körper geschlungenen weißen Handtuch, war Kai fest eingeschlafen. Das Handy klingelte ununterbrochen, einige Zeit sah Cecile ihm regungslos dabei zu, dann sagte sie, »Scheiße, ich kann das nicht«, und hob es vom Nachttisch auf. Kai wurde wach und starrte ihr ins Gesicht. Sie hielt das Telefon an ihr Ohr, holte tief Luft und sagte plötzlich: »Detlev, Kai ist bei mir, wir sind in Berlin, es tut ihm leid,
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