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Jage zwei Tiger

Titel: Jage zwei Tiger
Autoren: Helene Hegemann
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manchmal doof, aber es gibt sechs Milliarden Menschen, die noch doofer sind als du.«
    Cecile fragte sich, ob es noch ein anderes Wort mit Doppel-ö gab. Sie kamen an Apokalypse predigenden, verrückten alten Männern vorbei, in deren Bärten Eiszapfen hingen. Auf dem Parkplatz eines Supermarktes schrie eine durchgeballerte Version von Winona Ryder eine Person an, die sich aus zusammengeklebten DIN -A4 -Blättern ein Gespensterkostüm mit ausgeschnittenen Gucklöchern gebastelt und sie angeblich angespuckt hatte. Die Frau beleidigte das Gespenst mit ellenlangen Aneinanderreihungen veralteter Schimpfwörter und schleuderte ihre Einkaufstüten nach ihm. Die restlichen ihnen entgegenkommenden Menschen machten sich unter dem Grün des Himmels vermutlich Gedanken über das, worüber sie sich bereits jahrelang Gedanken gemacht hatten. Verführungsstrategien, Kinder, und warum ihnen ihre Kollegin am Vortag gesagt hatte, dass sie einen zu dicken Arsch für rosa Stretchjeans hätten. Sie alle sahen verrückt aus. Irgendwann standen Kai und Cecile vor einem Schaufenster, starrten auf eine dort ausgestellte, unfassbar hässliche Multifunktionsdaunenjacke und atmeten parallel zueinander sehr tief ein.

 
     
    18
     
    Am darauffolgenden Morgen brachte Detlev Kai zum Gleis 4 des Münchner Hauptbahnhofs, seine Stufe schien bereits vollständig in dem dort wartenden Eurocity nach Polen zu sitzen. Detlev umarmte Kai und erzählte, wie er in seinem Alter ein Praktikum bei der Lokalzeitung gemacht hatte. »Mein erster Artikel hieß ›Windhose in Freibad weht Handtücher weg‹. Und mein zweiter handelte von einem Falken, der dem Eggegebirge entflohen war und plötzlich auf dem Dach vom Lebensmittelladen saß. Das war dann auch der letzte, glaub ich.«
    Etwas Emotionaleres schien ihm einfach nicht einzufallen, aber Kai verstand die Geste, er biss sich einen kleinen Fetzen abgeblätterter Haut von der Lippe und klopfte seinem Vater zum Abschied auf die Schulter. Dann ging er mit suchendem Blick an den Zugfenstern entlang, um in ein Abteil am anderen Ende des Gleises zu steigen. Ab und zu kratzte er sich am Nacken oder blieb für den Bruchteil einer Sekunde stehen, Detlev sah dieser perfekt proportionierten Masse unverwundbaren Jungsfleisches beim Laufen zu. Die Gangart eines noch nicht ausgewachsenen Wolfes. Er sah Kai aus hundert Metern Entfernung ein- und ausatmen und sah sich auf dem Bahnsteig um. Im Gegensatz zu ihm stürmten alle Menschen zielgerichtet irgendwohin, während er selbst bloß dastand und auch für den Rest der Woche problemlos da hätte stehen bleiben können.
    Dann dachte er an seinen letzten Traum, in dem er von einem nur wenige Zentimeter breiten Balken in einen reißenden Bach gefallen war und sich, obwohl dieser Versuch hoffnungslos zu sein schien, an der dünnen Wurzel eines umgestürzten, zwischen Felsen verkanteten Baumes festgehalten hatte. Von unten sah er Kai, vier Jahre alt, wie er von dem Balken aus hilfesuchend in seine Richtung starrte und anfing zu weinen. Detlev schrie ihm zu, dass er ihn vergessen und weiterlaufen solle, was Kai nicht verstand, er weinte einfach nur und schien ihn gleichzeitig retten und von ihm gerettet werden zu wollen. Als sich Kai so weit in seine Richtung nach unten beugte, dass er ebenfalls ins Wasser zu fallen drohte, schrie Detlev nur, dass er Kai verdammt noch mal nicht helfen könne. Dann wachte er auf. Der Traum hatte einen so fundamentalen Schmerz in ihm ausgelöst, dass er ihn seit Tagen nicht zu verdrängen schaffte.
     
    Zwanzig Minuten später, zu einer Uhrzeit, zu der er normalerweise gerade aufwachte und beschloss weiterzuschlafen, saß Detlev in einer puristisch eingerichteten Tagesbar und bestellte Whisky. Ihm gegenüber saß Susanne. Sie erzählte eine Stunde lang davon, wie ihre Mutter als Kind zu einer Tante gegeben worden war und die Tante, morphiumabhängig, am vierzehnten Geburtstag ihrer Nichte an einer Überdosis starb. Wie die Mutter danach zu einer wohlhabenden Schulfreundin zog und, um dort wohnen bleiben zu dürfen, als Angestellte für die komplette Familie kochen, putzen und waschen musste. Wie sie mit achtzehn einen Mann, Susannes Vater, geheiratet hatte, der ihr fünf Tage nach der Hochzeit bei einem Spaziergang über die Äußere Maximiliansbrücke sagte, dass er sich zwar nicht für sie, aber definitiv für seine vorige Freundin dort runtergestürzt hätte. Sie erzählte, wie ihre Mutter jetzt, im Alter von fünfundsiebzig, ihren gelangweilten
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