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Fliehganzleis

Fliehganzleis

Titel: Fliehganzleis
Autoren: Frederike Schmöe
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Prolog

     

     
    Katja ging langsam am Ufer entlang. Das Schilf wiegte sich im Wind. Es raschelte leise und gleichmäßig. Wer sie aus der Ferne sah, würde annehmen, dass sie sich für ein paar Minuten aus dem Lagerbetrieb davonstehlen wollte. Ihre Rattenschwänze baumelten traurig über den Ohren. Sie bewegte sich schwerfällig vorwärts, als schleppte sie dicke Erdklumpen an ihren Schuhen mit sich herum. Dabei hatte es seit Tagen nicht geregnet.
    Der Dicke hatte ihr befohlen, das Ruder zu finden. ›Egal wo, egal, wie lange es dauert, aber komm mir ohne das Ruder nicht zurück!‹ Katja seufzte. Ihre Eltern bestanden darauf, dass sie mit den Jungen Pionieren ins Ferienlager fuhr. Sie wusste genau, dass in ihrer Familie andere Maßstäbe galten als zum Beispiel beim Dicken. Seinen Sohn, den mochte Katja, obwohl er älter war. Sie war ja erst neun, und der Junge schon mindestens 14. Er hätte ihr bestimmt beim Suchen geholfen, aber sein Vater hatte jede Hilfsbereitschaft schnell vereitelt. ›Lasst Katja mal alleine gehen. Das Ruder gehört euch allen, und wer dafür verantwortlich ist, dass es verlustig geht, der muss sich eben darum kümmern, es wiederzukriegen.‹
    Katja holte lang und tief Atem, um nicht zu weinen. Sie versuchte, an ihre Mutter zu denken. Sie sollte stolz sein, wenn Katja zurückkam und von ihren Ferien erzählte. Sich fröhlich zu geben, während man am liebsten geheult hätte, war nicht einfach. Dabei war es schön hier. Viel schöner als zu Hause. Hier war die Luft jeden Morgen erfüllt vom Salz des Meeres. Mit den Rädern fuhren sie fast täglich die paar Kilometer zur Küste und badeten im Meer. Katja verstand sich gut mit den anderen. Außer mit dem Dicken.
    Das blaugraue Wasser kräuselte sich im Wind. Drüben beim Lager ragte ein gebrechlicher Holzsteg in den See hinein. Das Wasser des Stromes sammelte sich hier im Rücken der Insel in einem riesigen Becken und bildete Buchten und Winkel. Katja ging zu ihrem Lieblingsplatz, wo sie unbeobachtet ins Wasser steigen konnte. Sie war eine gute Schwimmerin. Das Ruder würde sie schon auftreiben. Wahrscheinlich war es irgendwo in den Binsen hängen geblieben. Es war aus Holz, es konnte ja nicht untergehen!
    Langsam wurde es kühl. Katja schauderte. Am Himmel trieben Quellwolken dicht an dicht. Sie schoben sich übereinander, bauschten sich auf, verschmolzen und trennten sich voneinander. Die Binsen legten sich in den Windböen flach, als wollten sie sich gegenseitig ins Wasser drücken. Von fern hörte Katja eine Frau ihren Namen rufen. Aber sie dachte gar nicht daran, zurückzugehen. Im Lager galten nur die Befehle des Dicken, und der würde nicht gelten lassen, dass Katja wegen ein bisschen Wind die Suche nach dem blöden Ruder abbrach.
    Sie hatte die Stelle erreicht, wo das Schilf nur spärlich stand. Rasch ging sie ein paar Schritte in den See. Er fiel flach ab. Der Boden war sandig, das Wasser kalt. Katja fröstelte. Wenn sie auch nur ein paar Sekunden zögerte, würde sie sich nie überwinden. Der nächste Windstoß trieb ihr einen Schauder über die Haut. Sie atmete tief ein und ließ sich ins Wasser gleiten.
    Minuten später entdeckte sie das Ruder weit draußen auf dem Balmer See. Mit dem Wind war es leicht, sich hinaustreiben zu lassen. Dann verschluckte die Dunkelheit des hereinbrechenden Unwetters den Schatten des Ruders auf dem Wasser. Katja schwamm dem dunklen Streifen auf den sich kräuselnden Wellen hinterher. Aber da war kein Ruder. Katjas Kopf glitt tiefer ins Wasser. Ihre Arme und Beine wurden schwer vor Anstrengung und lahm vor Kälte.
    Als der Regen losbrach, übertönten Wind und Wasser Katjas Hilferufe. Drüben im Lager sah sie Lichter umhergeistern. Vielleicht suchen sie nach mir, vielleicht nicht, dachte Katja. Zuerst war sie fast rasend vor Angst, aber je mehr sie unterkühlte, desto weniger machte ihr das alles etwas aus. Sie dachte an ihre Mutter. Dann dachte sie an nichts mehr.
    Ihre Leiche wurde wenige Stunden später im Schilf gefunden.

     

August 2008

1
    Im späten August wurden die Farben klarer, die Konturen schärfer, und die Hell-Dunkel-Kontraste traten deutlicher hervor.
    Ich saß am Mittwochnachmittag im Schatten des Schlosses Rothenstayn und musterte kritisch die vom Schweiß gewellten Notizzettel auf meinem Schoß. Die Gräfin goss mir Eistee ein. Das leise Sprudeln des Brunnens hinter mir entspannte mich.
    »Noch ein Stück Himbeerkuchen?«
    »Ja, gern.« Ich sah Larissa Gräfin Rothenstayn zu, wie
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