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Jage zwei Tiger

Titel: Jage zwei Tiger
Autoren: Helene Hegemann
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diesem Zusammenhang bedeutete. Völlig unvermittelt schrie sie: »Was geht hier ab?«, hörte den Schrei jedoch von drinnen, aus der Richtung ihres auf dem Sofa liegen gebliebenen Körpers. Und nach einiger Zeit spürte sie die Gegenwart eines anderen.
     
    Als Kai am nächsten Morgen die Küche betrat, trug Cecile mehrere indianerhaft geschichtete Wollschals und aß ihr zwölftes Knäckebrot. Sein Vater saß im Schneidersitz auf der mit Kissen überhäuften Fensterbank und raufte sich die Haare. Kai runzelte zum ersten Mal in seinem Leben die Stirn. Er erzählte Detlev von einem Film über einen kleinen Jungen, der ein Reh als Haustier hatte, also im Garten, das immer mit ihm zur Schule ging. Und Cecile fragte Detlev, ob er so ein Dings, sie glaube, es heiße ganz schlimm »Loungemodul«, also eine Art Verlängerung zum Hinlegen am Sofa, okay finde. Detlev antwortete keinem von beiden. Cecile und Kai sahen sich durchgängig an, als hätte sich ein Kanal zwischen ihnen aufgebaut, durch den es ihnen möglich war, sich wortlos darin zu bestätigen, in der letzten Nacht ein fundamentales Erlebnis geteilt zu haben. Irgendwann stöhnte Detlev, dass er überdurchschnittlich krasse Kopfschmerzen hätte, und ging ins Badezimmer. Bis auf den von einem tiefen Seufzer begleiteten Satz »Schon irgendwie crazy, oder?«, Cecile hing auf ihrem Stuhl mit vom Körper weggestreckten Armen, als befände sie sich in totaler Sicherheit, und Kai übergoss gerade Cornflakes mit laktosefreier H- Milch, wechselten die beiden kein Wort miteinander. Nach einer Viertelstunde kam Detlev zurück, allerdings mit runtergelassenen Hosen und einem komischen Silberblick, der auf die beiden gerichtet war, aber ins Nichts zu starren schien. Er sagte: »Ey kommt mal mit bitte, voll hardcore.«
    Im Badezimmer zeichnete er mit ausgestrecktem Finger die Strecke nach, auf der er vorhin, feinsäuberlich in Reih und Glied, die kleinen Kügelchen aus der Waschpulverdose den Badewannenrand bis zur Decke entlanglaufen gesehen hatte. Cecile fragte ihn leicht triumphal, ob er gegen seine Kopfschmerzen tatsächlich LSD genommen habe, und befahl Kai danach, sich was Warmes anzuziehen, es sei nämlich arschkalt draußen.
    In das Grün mischte sich irgendeine helle Dunstansammlung. Kai sagte: »Ich liebe Nebel.« Detlev schrie den beiden vom Balkon aus altertümliche, pathetische Abschiedsfloskeln hinterher, Kai wurde von ihm als »mein eigen Fleisch und Blut« bezeichnet und Cecile als »Baby«, schön anglo ausgesprochen, was sie an die Zeit erinnerte, in der sie morgens um sechs manchmal ohnmächtig im Schnee gelegen und sich von vergreisten Trinkhallenbesitzern in Taxis hatte hieven lassen.
    Detlev wiederum erinnerte das an die Zeit, in der er auf SMS -Einladungen seines Freundes Rafael zu nachmittäglichen Grillpartys in dessen Garten mit der Frage geantwortet hatte, ob er die Gastgeberin ficken könne. Schlagartig kam er runter von seinem Trip, die vorher verschwommenen Seheindrücke wurden wieder zu dem altbekannten, ernüchternden Blödsinn, und er hatte das Gefühl sich übergeben zu müssen. Stattdessen suchte er sein Handy, fand es im Waschmittelkarton und wählte Susannes Nummer.
     
    »Bist du eigentlich schon mal so richtig abgestürzt?«, fragte Cecile Kai in einem Zustand, den man gedankenverloren nennen könnte. »Mit am nächsten Morgen aufwachen, und man hat Blutergüsse und den Ring von jemandes totem Großvater am Finger, dementsprechend geheiratet, es ist nachmittags, und auf der Falkensteinstraße ist letzte Nacht ein fremder Typ vor deinen Augen überfahren worden, als du den Club verlassen hast, wie so ein Dummy mindestens vier Meter weit über einen weißen Porsche Panamera geflogen, und zu Hause läuft auf 3sat plötzlich eine irritierende Doku über Küchendesign?«
    Kai verneinte. Cecile schmiss ihre Zigarette weg, setzte eine Sonnenbrille auf und sagte: »Warum solltest du auch, unnötige Erfahrung.«
    Dann fing Kai an zu heulen und erzählte von Samantha. Cecile klopfte ihm auf die Schulter, kaufte ihm einen Milchshake und erklärte wider besseres Wissen, dass keine Liebe unerfüllbar sei. Als Kai aufgehört hatte zu weinen, fügte sie relativ unaufgeregt hinzu, dass sie das Gefühl habe, die zur Adoption freigegebene Tochter eines Mannes zu sein, der zuerst ihre Mutter, ihre Geschwister und dann sich selbst erschossen habe, woraufhin Kai in ein Detlevs Verharmlosungsmechanismen sehr ähnelndes Lachen ausbrach und sagte: »Du bist zwar
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