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Das Erste, was ich sah

Das Erste, was ich sah

Titel: Das Erste, was ich sah
Autoren: Karl-Markus Gauß
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DIE STIMME , wie lange spricht sie schon? Sie kommt aus dem dunklen, mit gerippten Plastikknöpfen bestückten Kasten, der zwischen den zwei hohen Buchregalen steht und ein quer laufendes, grünlich leuchtendes Band hat. Wenn die Mutter die Tuchenten ausklopft, setzt sie mich im Wohnzimmer auf den Boden. Ich hämmere auf Holzstücke, die ich aus der Matador-Kiste geleert habe, und während ich versuche, Bauklötze mit Stäbchen so zusammenzustecken, dass sie einer Figur oder einem Gebäude gleichen, höre ich diese körperlose Stimme. Gesucht wird der Gefreite Matthäus Ploderer, Angehöriger der 44. Infanteriedivision, zum letzten Mal gesehen im Jänner 1943 in Pitomnik.
    Ich werfe die Klötze in die Ecke und gehe zum Fenster, vor dem die Schneeflocken wirbeln. Über die Wiesen ist eine weiße Decke gebreitet, erst im Frühling nimmt die Siedlung wieder Farbe an, im Sommer fahren wir mit dem Bus ins Volksgartenbad, bis wir müde sind von der Sonne und vom Lärm der
anderen
. Im Herbst verschwinden die beiden Schwestern in der Schule und der Bruder im Kindergarten, ich spiele jetzt mit bunten Lego-Steinen aus Plastik, die mir so wenig Freude bereiten wie das Spielzeug aus Holz. Verdrossen schaue ich zum Fenster hinaus und bemerke, dass es wieder zu schneien begonnen hat, und noch immer ist die Litanei unbekannter Namen, fremder Orte, zerschlagener Divisionen nicht verstummt. Allein mit der volltönenden Stimme, werde ich mir meiner Anwesenheit im Raum bewusst, und der empörenden Tatsache, dass ich allein bin. Der Raum ist unser Wohnzimmer, aber er ist unendlich groß, er reicht bis zur Narva, das Schlachtfeld von Charkow hat Platz darin, die Sümpfe des Donezk. Dies ist eine meiner frühesten Erinnerungen, die Stimme, die heute nur in mir noch existiert, weil der Mann aus dem Radio längst tot und im Äther verrauscht ist, was er sagte, diese Stimme, die keinem Anwesenden gehörte und nach zahllosen Abwesenden fragte: sie war es, die in mir das Bewusstsein meiner selbst geweckt hat.

DAS ERSTE, WAS ICH SAH , als ich aus dem Schlaf gerissen wurde, war der Vater, wie er die Bücher aus dem Fenster warf. Er trug die Kleidung, die wir von ihm zuhause gewohnt waren, ein ärmelloses weißes Unterhemd und die akkurat gebügelte dunkelblaue Hose, die zu dem Sakko gehörte, das er sogleich, wenn er die Wohnungstür hinter sich geschlossen hatte, achtlos über einen Haken der Garderobe hängte. Ich schreckte auf, es war Nacht, im scharfen Licht stand der Vater beim Fenster und nahm ein Buch nach dem anderen vom Stapel, prüfte es kurz und warf es dann mit lässiger Armbewegung die vier Stockwerke in den Garten hinunter. Dann beugte er sich hinaus und schickte den Büchern ein paar höhnische Worte hinterher, die den zwei Männern galten, die unten in der Finsternis warteten und an ihren begütigenden Rufen, die sie bei jedem Wurf hören ließen, leicht zu unterscheiden waren.
    Hinter ihm im Zimmer stand die Mutter, redete auf ihn ein und nannte ihn beständig »Kortschi«. Das war die ungarische Koseform seines Vornamens Karl, die sie nicht oft verwendete, denn auf Ungarisch sprachen sie nur, wenn sie sich in einträchtiger Stimmung befanden, ganz anders, als wenn sie unversehens ins Serbokroatische wechselten; dann zischten sie sich Worte zu, die wir nicht verstehen sollten, von denen wir aber verstanden, dass es böse Worte waren, sodass das Serbokroatische für uns immer Unfrieden bedeutete und dieses tagelange dumpfe Brüten ankündigte, das auf ihren Streit zu folgen pflegte. Jetzt aber war sie begeistert von ihm, als hätte sie gerade wiederentdeckt, wie leidenschaftlich er sein konnte, und ich weiß nicht, ob ich sie je wieder so hingerissen von ihm gesehen habe wie damals, als sie ihn halbherzig vom Fenster zog und doch zu hoffen schien, dass er sich nicht so rasch werde besänftigen lassen.
    Aufgewacht in diesem Tumult, beginne ich zu weinen. Bücher sind etwas Wertvolleres als Vasen und Gläser und Tassen, sie sind das Edelste, das Menschen besitzen können. Die beiden Regale im Wohnzimmer, zwischen denen der dunkle Kasten mit Radio und Plattenspieler steht, sind bis oben mit ihnen bestückt, die der Vater in hohem Bogen in den Garten befördert, als handle es sich um wertloses Zeug. Und doch ist er gutgelaunt in seinem Grimm, in dem ihn die Mutter tadelnd anfeuert, sodass ich mitten im Weinen lachen muss wie damals, als die Schwestern ein großes Glas Wasser aus dem Fenster leerten und unten zufällig die böse
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