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Jage zwei Tiger

Titel: Jage zwei Tiger
Autoren: Helene Hegemann
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Jonas.
    »Die hat auch nicht nur einen Arm«, sagte Kai völlig paralysiert, während die Zwillinge im Hintergrund anfingen rumzuquengeln.
    »Offenbar doch. Ist ja auch egal, hat sie als Kind vielleicht beim Rhönradfahren verloren. Ich würde an deiner Stelle mal googeln, wo die gerade abhängt mit ihrer crazy Zombie-go-home-Family, und dann fährst du da einfach hin. Statt zur Scheißklassenfahrt.«
    »Warum Zombie-go-home?«, fragte Kai.
    »Weil die volle Kanne inzestuös am Start sind, sieht man doch.«
    Jonas nahm die Kamera wieder in die Hand und fragte die Zwillinge, wie sie das Mädchen in der Zeitschrift fänden, Kai sei nämlich voll in die verliebt. Die Mädchen guckten über Kais Schulter in die Bravo, sprangen zwei Sekunden später von großem Ekel erfasst durchs Zimmer und schrien: »Igittigitt, Schlangen!«
     
    Zum gleichen Zeitpunkt saß Cecile neben Detlev vorm Fernseher. Detlev lag ausgestreckt auf dem Sofa und beachtete sie kaum. Er trug eine weiße Jeans zu einem weißen T -Shirt und hatte eine schwarze Mütze auf dem Kopf. In der Hand hielt er ein Glas Milch, und als Cecile sagte, das sehe irgendwie gut aus, antwortete er, ohne seinen Blick vom Fernseher abzuwenden, es sehe erst dann richtig gut aus, würde in dem Glas Milch noch eine schwarze Olive schwimmen. Wenn er sie an dieser Stelle gefragt hätte, woran sie gerade dachte, hätte Cecile angefangen zu weinen und geantwortet: »Daran, dass ich einfach immer, wenn ich dich angucke, losheulen will. An alles, was du bist, an alles, was du je gesagt hast, an alles, was du jemals gemacht hast, und an alles, was du noch machen wirst. An deine ganze Kraft und Klarheit. An deine Ernsthaftigkeit und deine Stimme und deine Wildheit. Du weißt, ich liebe nur dich, lass uns über eine Hochzeit im Schlosshotel Aurachhof bei Neckarwestheim sprechen, daran denke ich gerade, und seit Wochen habe ich an kaum was anderes gedacht.« Stattdessen fragte er, ob sie am nächsten Tag zusammen mit Kai in die Stadt gehen könne, um Winterklamotten für seine Klassenfahrt in ein polnisches Skigebiet auszusuchen. Sie nickte und starrte in den Fernseher. Regionalprogramm, Talkshow, B- Prominenz, unter anderem eine vierzigjährige Seriendarstellerin, die sehr ambitioniert über die Gefahr von Nanotechnologie sprach und danach auf die Frage, ob sie ein Tier essen würde, das sie persönlich kannte, antwortete: »Einen Fisch vielleicht, je nachdem, wie weit der mir in seiner Entwicklung nahesteht. Ein Kaninchen nicht, einen Hund auch nicht, also, ich glaube, eher nicht.«
    »Mit der war ich mal zusammen«, sagte Detlev und schaltete den Fernseher ab. Er ging in sein Zimmer und knallte die Tür hinter sich zu. Cecile blieb für die nächsten zwei Stunden auf dem Sofa sitzen und versuchte sich einzureden, dass es Quatsch war zu glauben, er sei genervt von ihr.
     
    Als Kai nach Hause kam, fragte sie ihn, ob alles okay sei. Er sah verstört aus und hatte während der Minuten, die er bewegungslos im Türrahmen stand, kein einziges Mal geblinzelt. Er nickte bloß. Dann ging er in exakt derselben Gangart wie Detlev, Knicksenkfuß zu gesenktem Kopf, irgendwie alienhaft, in sein Zimmer und knallte ebenfalls die Tür zu. Cecile weinte ein bisschen und fragte sich, zu was für einer melodramatischen Idiotin sie sich entwickelt hatte. Kai legte sich aufs Bett und weinte auch. Beide versuchten einzuschlafen, was ihnen nicht gelang. Gegen 03:14 Uhr, es war der 16. März 2014 und unverhältnismäßig heiß draußen, wurde sich Kai außergewöhnlicher Schwingungen in seinem Körper bewusst und richtete seine ganze Aufmerksamkeit auf die Vorstellung, zur Decke zu schweben. Als er sich auf die Seite drehte, spürte er, wie er von seinem Körper losgelöst durch die Matratze auf den Boden sank. Dann schwebte er zur Tür. Parallel dazu drückte Cecile ihren Arm oder das, was sie für ihren Arm hielt, durch die molekulare Struktur des geschlossenen Fensters im Wohnzimmer. Sie kam sich unzulänglich vor, wie ein Kind, das unter Menschen ist, deren Sprache es nicht versteht. Sie hielt sich für eine Art 360-Grad-Aussichtspunkt ohne Substanz und schwebte, ohne etwas dagegen tun zu können, durch die Wohnzimmerwand nach draußen. Draußen war nicht das, was sie erwartet hatte, keine Straße, keine geschlossene Drogerie, keine Autos. Sie befand sich in einer hellgrünen, schwer zu durchdringenden Umgebung, hatte das Gefühl, asynchron zu sein, und wusste selbst nicht genau, was asynchron sein in
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