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Trojaspiel

Trojaspiel

Titel: Trojaspiel
Autoren: Marc Hoepfner
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       Das Wunder der Geburt vollzog sich im düstersten Winkel der Moldavanka, jenem Viertel im Herzen der Hafenstadt Odessa, dem Palmyra des Südens, das man anständigen Bürgern nicht zu betreten riet, sofern sie nicht an Leib und Seele Schaden nehmen wollten.
       Ein barfüßiger, schmutziger Knabe stand kniewackelnd vor der Tür der Hebamme Sonja Kotusova und bohrte unentschlossen in der Nase. Er betrachtete den schmutzigen Briefumschlag in seiner noch schmutzigeren Hand, und es fehlte nicht viel daran, daß er einfach wieder kehrtgemacht und das Weite gesucht hätte. In den dreißig oder vierzig Sekunden, in denen er abwartete und sich zwang, auf die Geräusche hinter der Tür zu hören, spielte er jedenfalls mit dem Gedanken, einfach zu verschwinden. Das Leben in der Moldavanka war nun einmal so, und ein Junge mit zerrissenen Hosen, der an schlimmer Zahnfäule litt und nur etwa einmal die Woche etwas Warmes zu essen bekam, war nicht derjenige, das zu ändern. Ein drittes Mal, entschied der Kleine, der auf den Namen Icko hörte, würde er ganz bestimmt nicht klopfen.
       Hinter der Tür hörte er ein Schnarchen, nein, ein Stöhnen, das Klirren von Glas, dann ein Schlurfen schwerer Schritte. Die korpulente, schnaufende Frau, die schließlich die Tür öffnete, trug einen Morgenmantel, und das blonde Gestrüpp, was da auf ihrem Kopf saß, mußte eine Perücke sein. Fasziniert war Icko jedoch von dem Veilchen auf dem rechten Auge der Hebamme, das größer und schöner war als das seiner Mutter, und beeindruckt war er von der Fahne, die seine Nase kitzelte und von der er zu erkennen glaubte, daß sie sich nicht einem gewöhnlichen Selbstgebrannten verdankte, sondern einem sehr erlesenen Tropfen.
       »Was willst du Gauner?« fragte die Dame verbindlich, denn vor Kindern, die es geschafft hatten, älter als fünf Jahre alt zu werden, und damit als zäh gelten mußten, hatte sie wenig Respekt, sie hinderten die Eltern daran, es erneut zu versuchen, um über das lebensfeindliche Klima des Viertels zu triumphieren, und das war schlecht fürs Geschäft.
       Der Knabe mußte wohl etwas von diesen menschenfreundlichen Gedanken der Frau im Schlafrock erraten haben, denn er setzte nicht auf besondere Höflichkeit, drückte ihr schnell den Umschlag in die Hand und sagte nur hastig:
       »Eine Frau in der Stummstraße Nummer 9 erster Stock. Sie platzt gleich. Die dritte Tür rechts, dann den Korridor entlang, die letzte Kammer auf der linken Seite. Schnell sollen Sie kommen, hat die Dame gesagt.«
       Und dann, ehe ihm Antwort erteilt worden war, eilte er die Stufen des Treppenhauses hinunter, vorbei an ein paar alten Apfelsinenschalen und der einäugigen Katze, die berauscht vom Kerosingeruch, der aus der Tür des Hausmeisters drang, unter einem Handwägelchen lag. Icko hatte jetzt ein besseres Gefühl als vorher. Die zwanzig Kopeken, die ihm jene bleiche Frau, die ihn im Treppenhaus am Kragen erwischen konnte, für den Auftrag bezahlt hatte, waren jetzt redlich verdient. Und mit dem guten Gewissen, daß er, der, selbst wenn er Schuhe besessen hätte, nicht in der Lage gewesen wäre, sie zuzubin-den, eine Frau vor dem Platzen bewahrt hatte, würde er jetzt seinen Freunden Dima und Kolja ein Eis und ein paar Zigaretten spendieren. Für einen Augenblick fragte er sich noch, wer es seinerzeit wohl so zuverlässig verhindert haben mochte, daß seine eigene Mutter einfach geplatzt war. Aber dann rannte er schon um die Ecke und bog in die Dalniskaja ein.
       Dort erblickte er Manka, die Kosakin, gewitzte Anführerin einer fünfköpfigen Mädchenbande, die in der Elektrischen zwischen der dritten und achten Station arbeitete. Manka, eine noch nicht den Kinderschuhen entwachsene Brünette, mit grünen, katzenhaft dreinblickenden Augen, hatte ihn zwar schon zweimal einfach so zum Spaß verprügelt, aber das änderte nichts daran, daß sie das schönste Mädchen des Viertels war, und auch sie besaß, das wußte er bereits, eine Schwäche für Eiscreme und Zigaretten.
      
       Die Hebamme Kotusova hatte, noch ehe der Junge seine Rede beenden konnte, den Umschlag aufgerissen und beim Anblick des neuen Fünfrubelscheines leise durch die Zähne gepfiffen.
       Ihr gewöhnliches Honorar betrug zwischen zwei und drei Rubel, sie hatte auch schon einmal für nur einen Rubel entbunden, aber dafür einen Aschenbecher aus Perlmutt und ein Tintenfaß mitgehen lassen. Fünf Rubel auf diese Weise im voraus zu erhalten
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