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Partitur des Todes

Partitur des Todes

Titel: Partitur des Todes
Autoren: Jan Seghers
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Erster Teil
    Es war nichts Ungewöhnliches, was im Morgengrauen des 19.Oktober 1941 in der Liebigstraße im Frankfurter Westend geschah. Dergleichen passierte im Herbst dieses Jahres in vielen deutschen Städten und Dörfern. Und doch war es ein Ereignis, welches das Leben des zwölfjährigen Georg in wenigen Minuten von Grund auf veränderte.
    AmAbend zuvor hatte ihm seine Mutter überraschend mitgeteilt, dass er die Nacht bei dem befreundeten Ehepaar im Haus gegenüber verbringen werde, weil sie und der Vater am nächsten Morgen frühzeitig zu einem Verwandtenbesuch aufbrechen würden. Georg hatte seine Waschtasche und einen Schlafanzug eingepackt, dann war er in sein Zimmer gegangen, um zu lesen. Kurz vor Mitternacht klopfte es an seiner Tür.Als er sich von seinen Eltern verabschiedete, bemerkte er, dass sowohl Vater als auch Mutter unruhig wirkten und ihn länger als sonst in die Arme schlossen. Weil er wusste, dass sie ihm nicht die Wahrheit sagen würden, stellte der Junge keine Fragen. Sein Vater öffnete die Tür zur Straße, warf einen Blick auf die umliegenden Häuser, dann gab er seinem Sohn ein Zeichen. Georg überquerte die Fahrbahn und schaute sich nicht mehr um.
    Geweckt wurde er von dem Lärm, der mit einem Mal von der Straße heraufdrang. Einen Moment lang wusste er nicht, wo er sich befand. Er tastete wie gewohnt nach demSchalter der Nachttischlampe, aber seine Hand griff ins Leere. Georg strich mit den Fingerspitzen über die Bettdecke und merkte, dass es nicht seine eigene war. Dann öffnete er die Lider und versuchte, seine Augen an die Dunkelheit zu gewöhnen.Als er die Umrisse der großen Standuhr erkannte, begann er sich |10| zu erinnern. Er stieg aus dem Bett, ging zum Fenster, schob die Vorhänge ein wenig beiseite und sah hinunter auf die noch dunkle Straße. ZweiAutos – eine Limousine und ein kleiner Lieferwagen – standen mit eingeschalteten Scheinwerfern und geöffneten Türen vor dem Haus, in dem Georg und seine Eltern lebten. Sämtliche Fenster der Wohnung waren erleuchtet. Rechts und links neben dem Eingang konnte man zwei uniformierte Männer erkennen. Beide hatten Gew ehre in der Hand.
    Zuerst verließ seine Mutter das Haus. Sie hatte ein Kopftuch umgebunden und trug zwei schwere Taschen. Ein Mann ging dicht neben ihr her, packte sie schließlich am Oberarm und drängte sie auf die Ladefläche des Lieferwagens.
    Dann kam sein Vater, gefolgt von einem kleinen Mann, der mit Hut und Mantel bekleidet w ar. Beide standen im hellen Rechteck der Eingangstür. Georg sah, w ie sein Vater sich umdrehte und ins Haus zeigte. Der kleine Mann schüttelte den Kopf. Er nahm einem der Uniformierten das Gewehr ab, packte es am Lauf, holte aus und versetzte Georgs Vater mit dem Kolben einen Stoß in den Rücken. Georg öffnete den Mund, aber er schrie nicht. Er sah, wie sein Vater ins Taumeln geriet und vornüber auf die Straße fiel. Er sah, wie der kleine Mann das Gewehr zurückgab und dem Uniformierten zunickte. Dann merkte der Junge, dass seine nackten Füße in einer Pfütze standen. Er hatte alles richtig gemacht. Er hatte gewusst, dass er nicht schreien durfte.Aber sein Wasser hatte er nicht halten können.
    Die nächsten vierundsechzig Jahre seines Lebens w ürde Georg bemüht sein, mit dieser Nacht auch seine Eltern zu vergessen.
     

Eins
    Als Monsieur Hofmann an diesem Morgen versuchte, ein Stück von dem großen luftgetrockneten Schinken abzuschneiden, das er für Mademoiselle Blanche mitnehmen wollte, rutschte die Klinge ab und fuhr ihm geradewegs in die Hand. Reglos sah er zu, wie sich das Blut in seiner Handfläche sammelte und auf die Tischplatte tropfte. Er griff nach einem sauberen Geschirrtuch und wickelte es um die Wunde. Dann ging er ins Badezimmer, setzte sich auf den Rand der Wanne und wartete einen Moment. Schließlich nahm er ein großes Pflaster aus dem Spiegelschrank und klebte es zwischen Daumen und Zeigefinger der linken Hand. Ein kleines Missgeschick, mehrnicht.Als die Spuren des Unfalls beseitigt waren, hatte er diesen auch schon fast wieder vergessen.
    Kaum eine Zeit im Jahr mochte Monsieur Hofmann lieberals den zu Ende gehenden Mai und den beginnenden Juni. Endlich konnteman sicher sein, dass die kalten Tage vorüber waren und der Winter keine unverhoffte Kehrtwende mehr machen würde. Der Himmel über Paris war so blau, wie er nur vermochte, das Grün der Bäume war noch frisch, und die kühlen Winde, die vom Kanal herüberwehten, machten dasAtmen leicht. Mit
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