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Jage zwei Tiger

Titel: Jage zwei Tiger
Autoren: Helene Hegemann
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plötzlich. Ihr Atem wurde unregelmäßiger, ihre Pupillen weiteten sich, und sie sprang vom Bett auf.
    »Du willst wissen, wovon ich rede?«
    Kai nickte schüchtern, dieser völlig unvorhersehbare Stimmungswechsel überforderte ihn kolossal. Samantha holte Luft.
    »Davon, dass ich in Verhältnisse reingeboren wurde, in denen ich tun muss, als sei ich ein debiles Proletengirl! Ich hab mein Leben lang gelogen! Ich gehöre zu den unerträglichen Menschen, die sich dümmer stellen, als sie sind! Zu denen, die sich am Ende eines Films eingestehen, ihr Leben lang falsch gewesen zu sein, und deren Eingeständnis und deren Tod nur zum Fortlauf der Scheißhandlung dienen! Und weißt du weshalb? Aus Harmoniesucht, Kai. Weil ich auf die Scheißfrage, ob ich eine Kuh oder ein Cowboy sein will, ›Kuh‹ antworten würde.«
    Kai schluckte, Samantha fing beinahe an zu heulen und setzte sich wieder. Sie kratzte sich an beiden Schläfen, starrte kurz auf den Boden und dann wieder ihn an, etwas weniger feindlich zwar, aber trotzdem so, als würde sie gleich implodieren.
    »Wenn das jetzt ein Film wäre, dann wäre ich nicht das durchtriebene Outlawbiest, das sich mit nem Samuraischwert an erwachsenen Arschlöchern rächen muss und deswegen cool ist. Ich wäre auch nicht die von allen Helden geliebte, unschuldige Gewinnerin am Ende. Ich wäre die hinterhältige Schlampe, die an dieser Stelle wegen eigener Unzulänglichkeiten ein Messer im Rücken hätte und dir in der letzten Sekunde ihres Lebens gestehen würde, dass sie dich erstens immer geliebt und zweitens deine komplette Familie umgebracht hat.«
    »Mach dir keine Sorgen, ich hab keine Familie«, sagte Kai lachend, aber Samantha starrte ihn nur durchdringend an.
    »Meine Mutter ist tot«, fuhr er fort, »mein Vater ist unzurechnungsfähig, meine Tanten sitzen in Neuseeland und spielen Poker, und –«
    »Siehst du: Mutter tot, super Ansatz.«
    »Aber du hast sie definitiv nicht umgebracht.«
    Samantha sah ihn an, Kai sah auf die Lotusblütentapete neben ihrem Kleiderschrank. Er würde im Nachhinein nicht mehr rekonstruieren können, wie viel Zeit verging, bis sie aufstand, auf ihn zulief und ihn küsste. Zuerst auf die Wange, danach auf die Stirn, dann steckte sie ihm unangekündigt die Zunge in den Hals. Alles zerfloss. Die Zeit, der Raum, er selbst sowieso, es war ein stilechter Moment von nur in der Liebe herzustellender Perfektion, bis Samantha plötzlich übergangslos von ihm abließ, einen Schritt nach hinten ging und sagte, dass er morgen Abend wiederkommen solle.
    »Ich bin hier nicht schwer zu finden«, fügte sie hinzu. Kai nickte und versuchte sich zu orientieren. Er nahm Ceciles Jacke vom Schreibtischstuhl, sah sich um, ob er nichts vergessen hatte, dann fiel ihm wieder ein, was gerade passiert war.
    »Soll ich echt gehen jetzt?«
    »Ja.« Er gab ihr die Hand, sie lachte und küsste ihn noch einmal auf den Mund.
    »Und geh ich recht in der Annahme, dass ich niemandem von deinen gestorbenen Regieambitionen erzählen darf?«, fragte er.
    »Du hast ne irre gute Rhetorik für nen Scheißvierzehnjährigen.«
    »Und du kennst dich irre gut mit dramaturgischen Strukturen aus. Für ein Scheißzirkusmädchen.«
    »Glaubst du eigentlich, die Welt geht unter?«
    »Nein. Aber ein Teil der Menschheit vielleicht.«
    Samantha dachte kurz nach, sagte dann todernst: »Das ist eine gewagte These, Kai«, und zuckte mit den Schultern. Kai zuckte ebenfalls mit den Schultern und verabschiedete sich.
    Vom Fenster aus beobachtete sie, wie er, ohne sich noch mal umzudrehen, den Schulhof entlanglief und sich alles genauestens ansah, das Zelt, die Wohnwagen, eine aus dem Stall ausgebrochene Ziege, die gelangweilt durch die Gegend trottete. Am Tor zur Straße, in zweihundert Metern Entfernung, stand Cecile. Nachdem Kai ihr einige Minuten wild gestikulierend irgendwas erzählt hatte, lachte sie und klopfte ihm auf die Schulter. Samantha wartete, bis sie die beiden nicht mehr sehen konnte, schminkte sich mit feuchtem Klopapier das Gesicht ab und ging raus, um Lamberto zu suchen. Als er ihr die Tür zu seinem Wagen aufmachte, drängte sie sich an ihm vorbei ins Innere und ließ sich auf einen Stuhl an seinem kleinen Küchenklapptisch fallen. »Ich muss mit dir reden«, sagte sie und fing augenblicklich an zu weinen. Sie erzählte ihm unfassbar detailliert, in viel zu schnellem Tempo und einem ernsthaften Nervenzusammenbruch nahe, wie sie vor drei Jahren ein paar debile Unterschichtkids in
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