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Die blonde Witwe

Die blonde Witwe

Titel: Die blonde Witwe
Autoren: Alexander Borell
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1

    Der Mann an den blitzenden Chromhähnen tat, als sei ich Luft für ihn. Er ließ unaufhörlich Bier in Halblitergläser laufen; seine nackten, behaarten Arme arbeiteten wie Maschinenhebel.
    »Ein Helles«, sagte ich, als er endlich in meine Richtung blickte.
    Ich stand in einer lebendigen Mauer an der Theke, wurde gedrängt und geschoben, roch verschwitzte alte Kleider und ab und zu auch ein billiges Parfüm. Für den Mann an den Zapfhähnen war ich Luft.
    Dreißig, vielleicht auch fünfzig Menschen belagerten die Theke im Mittelfeld des Imbißraumes, tranken Bier, rauchten oder aßen Würstchen. Junge, langhaarige Burschen mit engen Hosen und bunten Hemden; alte Knaben, unrasiert und verkommen, mit fetten Visagen oder hageren Galgenvogelgesichtern; Zuhälter; zwischendurch ein aufgedonnertes Mädchen mit geldgierigen Augen, manchmal auch ein Vertreter, dessen müde Blicke von dem kleinen Pappteller mit den Würstchen zu seinen Koffern hin und her gingen.
    »Ich möchte ein Helles, bitte!«
    Er ließ sich herab, mir kurz zuzunicken. Ich war für ihn ein Bursche, der einen Job brauchte, und das dringend. Irgendeinen Job, bei dem ein paar Mark zu verdienen waren.
    Die nackten, muskulösen Arme arbeiteten weiter. Auf dem linken Unterarm sah ich ein tätowiertes Herz mit einem Pfeil und dem Namen Erna. Ich war immer noch Luft für ihn.
    Die Bahnhöfe haben sich geändert seit dem Krieg. Auch dieser, der Hauptbahnhof in München, ist trotz des Umbaues, trotz der neuen Halle und trotz der neuen Geschäfte nichts weiter als ein trostloser Bahnhof.
    Es riecht auf den Bahnhöfen nicht mehr nach Kohlenruß, nach heißem Wasserdampf und Lederkoffern. Es riecht nicht mehr nach erwartungsvoller Reiselust, nach Abenteuer und Ferne. Es muffelt nach Hast, nach Geschäft, nach Zeitverlust, und statt nach froher Erwartung riecht es nach Hetze, nach immerwährender Flucht. Die Menschen scheinen noch heute, zwanzig Jahre nach dem Krieg, vor irgend etwas zu fliehen. Nicht mehr vor Bombern, nicht mehr vor dem Hunger, sondern vor sich selbst.
    Er stellte das Helle vor mich hin und sagte: »Er kann erst um Mitternacht kommen. Sie müssen warten.«
    »Danke«, sagte ich und zahlte. »Ich werde warten. Wird es denn klappen?«
    Der Mann nickte.
    »Ich denke schon, wenn Sie der sind, den er sucht.«
    Selbstverständlich gibt es im Münchener Bahnhof auch andere Gasträume, sehr gemütlich und hochelegant. Um diese Zeit aber sind sie leer. Außerdem interessierten sie mich nicht. Ich verfolgte einen ganz bestimmten Zweck, und dem schien ich hier draußen in der Imbißhalle, gleich neben dem Schalterraum, recht nahe zu sein.
    Ich nahm mein Bier und setzte mich an einen Tisch. Das Tischtuch hatte Flecken und war mit Asche überstäubt. Die Zeiger der großen Uhr an der getünchten Wand zeigten auf dreiundzwanzig Uhr. Eine Stunde mußte ich noch warten. Der große Zeiger der Uhr durchschnitt die allegorische Frauengestalt auf dem Zifferblatt wie ein Speer.
    Der alte Mann an meinem Tisch schlief. Sein Kopf sank immer tiefer herab, berührte schon fast das Stück Brot auf dem Tischtuch.
    Ein breiter, bulliger Kerl kam an den Tisch, zog den Pennbruder am Kragen hoch und gab ihm mit dem Handrücken einen leichten Schlag ins Genick. Ordnungsdienst stand auf seiner grauen Mütze.
    »He, Opa, geschlafen wird hier nicht! Noch einmal — und du fliegst raus!«
    Ordnung muß sein; auf Bahnhöfen wird nicht geschlafen und im Imbißraum schon gar nicht.
    Ich beobachtete die Männer, die die Mitteltheke umlagerten. Es mochten dort — ich rechnete mir das aus — insgesamt etwa vierhundert Jahre Vorstrafen versammelt sein. Keiner, so schien es mir, hatte eine Fahrkarte in der Tasche. Dieser Imbißraum wird nachts zum Nabel der Stadt. Hier trifft sich alles, was Grund hat, nicht zu Hause zu sein: weil es kein Zuhause gibt, weil Geschäfte locken oder billige Mädchen, weil es nichts anderes gibt.
    Ich war am Vortag, am Sonntag, schon hier gewesen, und hatte dem Mann an der Theke fünf Mark in die Hand gedrückt.
    »Ich brauche einen Job«, hatte ich gesagt, »irgendeinen. Ich bin am Ende. Ich brauche Geld.«
    »Dafür bin ich nicht zuständig«, hatte er geantwortet und meine fünf Mark eingesteckt. »Aber bleiben Sie mal da, vielleicht tut sich was.«
    Und dann, gegen ein Uhr morgens, hatte er mir gesagt, daß er vielleicht etwas für mich wisse. Ich solle am Montag abend um elf Uhr wiederkommen; ein Mann könne mich vielleicht brauchen.
    Also wartete
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