Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Jage zwei Tiger

Titel: Jage zwei Tiger
Autoren: Helene Hegemann
Vom Netzwerk:
nicht erreichen ohne hohes Risiko, durch das Fenster gesehen zu werden. Dann fiel sein Blick auf die immer noch offen stehende Tür des Wagens, aus dem vorhin das Mädchen mit ihrer Mutter getreten war. Er kroch aus dem Gebüsch und um die teilweise noch mit Planen behangenen Zeltmasten zur gegenüberliegenden Seite, zwang sich, die letzten Meter zu rennen, und erreichte die Tür.
    Es war dunkel im Wagen, nur die Wärmelampe eines auf zwei Barhockern stehenden Terrariums sorgte für Licht. Zwischen den Barhockern stand ein Aldi-Sixpack mit Energydrinks, Kai leerte zwei davon, und als er aus zwangsneurotischem Reflex lesen wollte, was er da gerade an Glucuronolacton und synthetischen Aromastoffen runtergewürgt hatte, bemerkte er zum ersten Mal, dass er keine Brille mehr trug. Er sah sich nach einem Spiegel um und entdeckte einen, hinter zwei überfüllten Kleiderstangen mit Zirkuskostümen. Er wusste nicht warum, aber er kniff seine Augen zusammen, während er zum Spiegel wankte. Er hatte nahezu Panik davor, sich selbst zu sehen. Nicht seines ramponierten Zustands wegen, sondern eher bezüglich der Scheißangst, von jetzt an ein neuer Mensch sein zu müssen.
    Er öffnete seine Augen einen Spalt und realisierte schemenhaft, in diesem Halbdunkel, dass er krass aussah. Mehr wollte er gar nicht wissen. Er guckte weg, sein Blick fiel auf ein an der Wand hängendes Poster von Eminem, für den Kai plötzlich nichts anderes mehr empfand als Respektlosigkeit. Dieser Typ hatte es mit dem Besingen schrecklichster, sein Aufwachsen behindernder Umstände zu ca. zwanzig Millionen verkaufter Platten gebracht. Sehr unvermittelt fing Kai an zu heulen. Das ganze Programm, große Hysterie, kaum Luft kriegen, unglaubliche Rotzeströme auf seinem Hemdkragen, er biss sich so fest in die Hand, dass sie zu bluten begann, und aus seinem Schluchzen entwickelte sich ein »Nein«, das er mehrmals wiederholte, so als könnte seine extreme Abneigung gegen die Situation, in die er geschmissen worden war, irgendeine höhere Instanz davon überzeugen, alles wieder rückgängig zu machen.
    So unvermittelt er zu weinen begonnen hatte, hörte er auch wieder damit auf. Aus diesem ganzen Drama gerissen wurde er von dem eindeutigen Gefühl, jemand könnte sich dem Wohnwagen nähern. Er beruhigte sich und zog die Gardinen zur Seite, um aus dem Fenster zu sehen. Samantha lehnte einige Meter entfernt am größten der Zeltmasten, mit dem Rücken zu ihm. Er konnte nicht erkennen, was sie dort machte, bis sie sich umdrehte, im hohen Bogen das tote (inzwischen, vermutlich von ihr selbst, ja mein Gott, das ist die Kompromisslosigkeit der Jugend: ausgeweidete) Eichhörnchen wegschleuderte und sich eine Zigarette anzündete.
     
    Das war das Bild, das Kai für den Rest seines Lebens als Beispiel für maximale Intensität verfolgen würde, das Mädchen, wie es im Gegenlicht des Sonnenuntergangs an diesem (man könnte ihn fast poetisch nennen) Zeltmast lehnte, mit einem paillettenbesetzten Stirnband, barfuß, die eine Hand in durchgebluteten Mullbinden, in der anderen die Zigarette, ein T- Shirt tragend mit der verschnörkelten Aufschrift »Don’t ask me it’s my generation«. Sie sah großartig aus und fühlte sich unbeobachtet. Sie schloss die Augen, als müsste sie eine nur ihr bewusste Form von Radikalität verarbeiten, eine auf sie einprasselnde, anstrengende Kraft, von der kein Mensch, der in diesem Moment älter als vierzehn war, eine Ahnung haben konnte. Dann ging sie weg. Kai wusste sich nicht anders zu helfen, als Lärm zu produzieren, er schmiss, wahllos greifbare Gegenstände durch den Wagen und wartete ab.

 
     
    3
     
    Als Samantha die Tür aufmachte, lag Kai zusammengekauert hinter den Barhockern. Er wollte gefunden werden. Von schräg unten sah er auf das Terrarium, in dem sich zwei ziemlich große Boa constrictor befanden. Das irritierte ihn kaum, im Gegensatz zu dem am Terrarium angebrachten, in bunter Kinderschrift gestalteten Namensschild. Die Schlangen hießen Marina und Karina. Samantha machte eine Wandlampe an, sah sich um, stellte die herumgeworfene Scheiße (mehrere Maybelline-Jade-Lidschattenduos) wieder hin im vertrauensvollen Glauben, metaphysische Kräfte hätten für den Krach gesorgt, und holte dann ein kleines, unter einem Schmutzwäscheberg verstecktes Kästchen hervor. Seelenruhig. Sie nahm Mundspray und Handcreme raus, legte ihre Zigarettenschachtel rein, setzte sich auf eine Waschmaschine in der Kai gegenüberliegenden Ecke und
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher