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Wo Schneeflocken glitzern (German Edition)

Wo Schneeflocken glitzern (German Edition)

Titel: Wo Schneeflocken glitzern (German Edition)
Autoren: Cathryn Constable
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»Halte meine Hand, Sophie. Wir müssen jetzt los!«
    Es war die Stimme ihres Vaters. Sie konnte ihn nicht sehen, wusste aber irgendwie, dass seine Haare verstrubbelt waren und dass er seinen schäbigen Mantel trug, den mit dem Saum, der herunterhing wie ein zerfetzter Flügel. Ihr Vater schob seine Hand in ihre, hielt sie ganz fest, und so liefen sie zusammen durch den vereisten Silberwald. Sophie wusste, wohin sie gingen. Immer an denselben Ort – ein Ort, der aus seinen Geschichten, Träumen und Erinnerungen stammte. Am Waldrand blieben sie stehen. Ihr Atem wehte vor ihnen her und der Schnee fiel vom Himmel wie ein schwerer Spitzenvorhang. Flocken, so groß wie Schmetterlinge, flatterten vor ihren Augen herunter.
    »Warte, Sophie«, sagte ihr Vater. »Sie kommt. Kannst du sie sehen?«
    Und seine Worte beschworen eine junge Frau im langen Mantel herauf, das Gesicht von einer Kapuze verhüllt. Eine dunkelblonde Haarsträhne lugte darunter hervor. Sie war mit Schneeflocken bedeckt, die sich unter Sophies Blick in funkelnde Diamanten verwandelten.
    »Wer ist das?«
    Sophie konnte die Antwort ihres Vaters nicht hören, aber er fasste ihre Hand noch fester und sang ihr etwas vor … ein wunderschönes Lied, dessen Worte sie schon lange nicht mehr gehört hatte. Sophie wollte ihren Vater nach der Frau fragen, aber jetzt war aus dem Lied eine Geschichte geworden. Eine Geschichte, die er ihr immer wieder neu erzählte.
    Es war Winter. Es schneite. Ein kleines Mädchen hatte sich im Wald verirrt. Und – Sophies Brust zog sich vor Angst zusammen – da war noch etwas … ein Wolf.
    Die Hand des Vaters entglitt ihr.
    »Lass mich nicht allein!«
    Aber er war nicht mehr da. Und ihre Angst und Enttäuschung vermischten sich mit den Schneeflocken und legten sich schwer über alles, wie ein Mantel aus Traurigkeit.
    »Sophie!«
    Nein! Diese Stimme gehörte in ein anderes Leben. Sophie wollte nicht antworten.
    Verzweifelt drückte sie ihr Gesicht ins Kopfkissen, wollte wieder in den Wald eintauchen, in diesen sonderbaren Traum, in dem sie die kalte, klare Luft auf der Zunge schmeckte wie eine Mischung aus Pfefferminz und Diamanten, ja, in dem sie sogar den Schnee unter ihren Füßen knirschen hörte.
    »Bist du wach?«
    Seufzend strich Sophie mit einer Hand über die Bettdecke, als wollte sie den Schnee herunterbürsten.
    »Jetzt schon, Delphine.«
    Ihre Stimme klang knurriger, als sie gewollt hatte, aber wie auch nicht? Delphine hatte sie aus dem Schlaf gerissen, und damit war der Tag am New Bloomsbury College for Young Ladies endgültig angebrochen und würde so schnell nicht zu Ende gehen. Zu spät für Träume.
    Seufzend wälzte Sophie sich auf den Rücken und starrte an die Decke. Warum musste das wirkliche Leben so langweilig sein? Und dieses Internat – warum war es so … so öde und farblos? So beige ? Seufzend blickte sie sich im Zimmer um, starrte auf die drei Kleiderschränke, die drei wackligen Nachttischchen und die drei zerkratzten Schreibtische mit den drei Stühlen davor, und sie sehnte sich nach etwas … anderem. Etwas Schönem, egal wie klein und unbedeutend. Blühende Kirschblütenzweige in einer Achatvase, Spitzenvorhänge am Fenster, Kerzenlicht … Hier, in diesem engen, schäbigen Internatszimmer, würde es nie etwas Schönes, Außergewöhnliches geben. Keine Geheimbotschaften, keine Spionage. Keine Abenteuer.
    Nur Schule.
    Delphine setzte sich im Bett auf und streckte sich. Goldenes Haar fiel ihr über das Gesicht und die Schultern. Sie sah aus wie eine Prinzessin aus dem Mittelalter, die nach einem tausendjährigen erholsamen Schlaf in einer Kirchengruft erwacht war.
    »Wie ist das Wetter?«, fragte sie, obwohl sie das Wetter kein bisschen interessierte: Delphine wollte nur wissen, was sie an diesem Tag mit ihren Haaren machen sollte. Und Sophies Bett stand direkt am Fenster. Jeden Morgen stellte Delphine dieselbe Frage.
    Sophie setzte sich auf. Einen Augenblick betrachtete sie das Foto von ihrem Vater, das auf dem Fenstersims stand. Auf dem Bild war der verträumte, nachdenkliche Ausdruck eingefangen, an den Sophie sich zu erinnern glaubte – als hätte er gerade etwas Interessantes gehört oder gesehen. Behutsam zog Sophie die Vorhänge zurück.
    Das Fenster ging auf eine enge Straße mit hohen Häusern, so dass sie ihren Hals vorstrecken musste, um einen Blick auf den Himmel zu erhaschen. Selbst bei strahlendem Sonnenschein war die Straße düster und trostlos. Heute rannen Regentropfen an
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