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Jage zwei Tiger

Titel: Jage zwei Tiger
Autoren: Helene Hegemann
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füllenden Mägen schimmerten, sein Körper war nicht mehr eigenständig und geschützt vor der Natur, sie ging in ihn über, die Insekten krabbelten in seine offene Bauchdecke, ohne dass er etwas davon spürte, er konnte es nur beobachten. Die Spitze der geschändeten Menschen näherte sich ihm, es war ein alter Mann, nur noch einige Meter von ihm entfernt. Er trug ein regloses Baby in den Armen, das keine Füße und Hände mehr hatte. Der Mann schrie nicht, aber es liefen ihm Tränen über das Gesicht, und als er Kai entdeckte, kämpfte er mit letzter Kraft darum, ihm zuzuflüstern, er solle weder vor Erniedrigung noch vor Gift fliehen, den Tod gebe es nicht in dieser Welt und man solle ihn deswegen auch nicht fürchten.
     
    Als Kai zum zweiten Mal seine Augen aufschlug, hörte er Vogelgezwitscher, die bedrohliche Dunkelheit war einzelnen, sich durch die Bäume kämpfenden Sonnenstrahlen gewichen. Er wusste, dass er nicht sterben würde. Die Tiere flohen vor ihm, als er sich zu bewegen versuchte. Seine Beine funktionierten, seine Zehen, seine Finger, er konnte seinen Kopf drehen und sich aufrecht hinsetzen. Er dachte: »Alles ist unsterblich«, und er war allein.

 
     
    2
     
    Er würde für den Rest seines Lebens allein bleiben. Seine Mutter hatte ihm ununterbrochen ein Mantra vorgebetet, dass er davonlaufen müsse, wenn er sich nicht wehren könne, und Feuer oder Vergewaltigung schreien. Er solle brennen, wilder sein als seine Provokateure und zugleich wie ein Renaissancegemälde aussehen, egal, ob er sich vor einer für 800 Euro mit englischen Seidenmalereien tapezierten Betonmauer befinde oder in vergletscherten Kesselmoorlandschaften. Kai konnte laufen, es kam ihm vor, als hätte die Natur seinen erbärmlichen Menschenkörper in ihrer Gewalt, schmerzhaft und unbezwingbar. Trotzdem schützte ihn der verdreckte Wald mit seiner natürlichen Gleichgültigkeit vor einer Realität, in der ihm längst instabile Knochenbrüche mit Polytrauma diagnostiziert und ein mit Pinguinen bedrucktes Nachthemd übergezogen worden wäre, hier zu sein war die einzige Möglichkeit, die Zeit anzuhalten und eine Strategie zu entwickeln, die Scheiße auszuhalten, irgendwie durchzukommen, durch diesen fürchterlichen hellen Tag. Alles war zu hell, es war unerträglich. In seine Beckenknochen liefen aufgrund diverser Gefäßverletzungen gerade ein bis zwei Liter Blut, nebensächlich, kalter Schweiß, zerquetschtes Unterhautfettgewebe in der Breite eines Autoreifens, es war wirklich egal. Ihm fiel eine Geschichte ein, die er oft gehört hatte, als er klein war – von einem erfolglosen Exfreund seiner Mutter, Halbindianer mit einem von Leberflecken übersäten Körper und dunklen Haaren bis zum Arsch. Er hatte Kai andauernd von einem Jungen erzählt, in dessen Körper sich das komplette Universum befand – solange er den Mund geschlossen hielt, war er bloß ein schmächtiges, kleines gehänseltes Kind. Öffnete er ihn jedoch, spielte sich in seinem Hals die komplette Existenz alles je Dagewesenen ab. Dieser in der Nightlifebranche beheimatete Mann hatte eines Nachts zwei spanische Teeniegirls mit nach Hause genommen und war dementsprechend plötzlich weg gewesen vom Fenster, Kai erinnerte sich nicht mal an seinen Namen, realisierte jetzt jedoch endlich, worum es in der Geschichte überhaupt ging. Darum, dass er selbst gleichzeitig das Universum und dessen kleinster Teil war. Und sich alle Menschen permanent im Zentrum dieses Widerspruchs bewegen mussten, um lebendig zu bleiben.
    Stundenlang lief Kai durch das hochmystische Ambiente, mit gesenktem Kopf durch das Laub, es war Herbst, bis er etwas Silbernes zwischen den Blättern aufblitzen sah, das den Anschein uneingeschränkter, unberührter Natur zerstörte. Ein in der Erde befestigter Metallhaken, von dem ein diagonal gespanntes, dunkelblaues Seil ausging. Kai konnte vor lauter Botanik nicht sehen, wohin es führte, also kämpfte er sich durch die Büsche. Das Seil endete an einem von vier zwei Meter hohen Masten auf einem kleinen, von Tannen umgebenen Seeufer. Über den Masten hing eine rote Plane, auf die weiße Sterne gedruckt waren, es war ein halb abgebautes Tierzelt mit bunt angemalten, hüfthohen Gittern, die teilweise schon gestapelt auf dem Boden lagen. Ein einziger Ziegenbock graste unangeleint vor sich hin, aus der Ferne ertönte das Meckern seiner bereits weggeführten Kollegen. Wieder Menschenstimmen, von sehr weit weg, relativ hysterisch, jedoch auf einer
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