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Jage zwei Tiger

Titel: Jage zwei Tiger
Autoren: Helene Hegemann
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langweiligeren Ebene als in seinem Traum, sie schienen sich auf Ostdeutsch über Sonderangebote verschiedener Discountsupermärkte zu streiten. Das Bild des allein gelassenen Tiers war surreal, wie es da graskauend stand und Kai anstarrte, umgeben von dieser Käfigruine. Der Großteil des bunten Lacks war abgeblättert, und der sternenbesetzte Zeltstoff hatte Löcher.
    Kai befand sich gegen seinen Willen in der Zivilisation. Und zwar in einer, die nichts mit seinem bisherigen Alltag zu tun hatte (in dem er, umgeben von eiweißlastig ernährten, reit- oder Tai-Chi- oder karatebegeisterten Kindern, in die fünfte Klasse einer bilingualen Ganztagsschule gegangen war oder mit seiner Mutter durch mit Kunst behangene Hallen an Menschen vorbei, die Binky immer genervt hatten, weil man anhand der pseudosubversiven Statements ihrer Anziehsachen und Haarschnitte sofort feststellen konnte, aus wie vielen und was für Designklassikern deren Inneneinrichtung bestand, ab und zu noch ein paar kalkulierte Brüche, irgendein bambusmäßiges, aus Bali eingeflogenes Windlicht zum Beispiel, oder ein Motörheadposter zwischen dem Eames-Softpadchair und irgendwas vom Flohmarkt, eine mit Perlmuttknöpfen beklebte Kommode, über der eine Pfauenfeder schwebt, grau gestrichener Beton mit Perserteppichen oder Echtholzparkett, sogenannte Scheißkreativoasen, in denen sich an folkloristischer Kunst geschätzte Einfachheit und Schlichtheit widerspiegelt, und auf keinen Fall Hängeschränke in der Küche). Das, was er unter seiner momentan so verhassten Realität verstand, war an diesem Ort dermaßen jenseits, dass er sich traute, an der Ziege vorbei zum Wasser zu gehen. Die Ziege folgte ihm sogar. Am anderen Ufer des riesigen Sees befanden sich ein paar Villengrundstücke, die mehr oder weniger tot aussahen. Die zum Ufer hinabführenden Hänge waren vom Nebel verdeckt. Weiter nördlich, ein bis zwei Kilometern entfernt, stand eine Neubausiedlung aus drei- bis vierstöckigen identischen Betonklötzen. Kai hatte sich inzwischen langsam den Menschen genähert, zu denen die Stimmen gehörten und die selbst ein Kleinkind den genannten Betonklötzen hätte zuordnen können – im Schutz irgendwelchen Zierstrauchgestrüpps beobachtete er drei Frührentner auf Stoffliegestühlen, der dickste von ihnen komplett nackt, die von zwei um ihr Lager herumtollenden Hunden aus ihrem Gespräch über Kartoffelknödel gerissen wurden. Und quasi hineingetrieben in einen Kampf gegen das andere, die Hunde und deren Besitzer, die ihnen keine Probleme bereiten würden und gerade deshalb ein Grund waren, sich mit großer Aussicht auf ein Erfolgserlebnis gegen sie zu wehren.
     
    Der eine Hund war eher ein Meerschwein, der andere eine sogenannte bayrische Gebirgsschweißdogge in Ponygröße, mit ungestutztem Fell, leicht debil wirkend, das kann man leider nicht anders sagen. Während sich der Frührentner Augen weiteten und sich das ganze Schwergewicht ihrer nackten Leiber in Angriffsstellung brachte, strahlten die Besitzer der Hunde eine Überlegenheit aus, die Kai bereits beim Anblick ihrer sich nähernden Silhouetten aus seinem bisherigen Lebenskonzept warf – das war er ohnehin gerade losgeworden und er selbst dementsprechend in einem sehr porösen Zustand. Das, was er da mitkriegte an Coolness und Andersartigkeit, war wie eine Offenbarung, nicht wirklich zu begründen zwar, aber existent und sich zu einer in dieser möglichen Neuorientierung liegenden Hoffnung entwickelnd. By the way, Kai hatte Schmerzen, extrem vielschichtige, die sich in Intervallen durch seinen Körper zogen und nicht mehr zu lokalisieren waren, aber wenn man jung ist, stirbt man nicht so leicht. Wie seine Mutter immer zu sagen gepflegt hatte. Man stirbt nicht so leicht, wenn man jung ist, und das ganze psychotische und zerstörte Material verwaltet sich dahingehend selbst, dass jede einzelne Zelle danach schreit, am Leben zu bleiben.
    Die Hunde rannten jedenfalls zum Wasser, der exaltierteste der Frührentner sprang schwerfällig auf und schrie den Besitzern zu, wo denn die Leinen und die Hundemarken seien und dass er die Polizei rufen werde. Seine zwei Begleiter, in ihren geschlechtsneutralen Cargopants, untermalten dies mit vorwurfsvollem Stöhnen. Es war zum Kotzen. Bei den Hundebesitzern handelte es sich um einen Mann und eine Frau, knapp über zwanzig in gefakten Markensporthosen. Der Mann lachte, rief die Hunde zu sich (»Tequil!, Sunrise!«) und brach einen Ast von einem Busch ab, um ihn
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