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Wolfspfade 6

Wolfspfade 6

Titel: Wolfspfade 6
Autoren: Lori Handeland
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    Alles war in Ordnung, bis dieses Foto in meinem Briefkasten auftauchte.
    Eigentlich stimmt das nicht. Nichts war mehr in Ordnung, seit meine Schwester sich in Luft aufgelöst hatte.
    Offenbar konnten Menschen so vollständig verschwinden, dass man keine Spur mehr von ihnen fand. Ist das hier nicht Amerika? Das Land der großen Freiheit, die Heimat der Überwachungskameras? Der Große Bruder beobachtet einen öfter als man vermutet. Unglücklicherweise hatte er gerade bei der Arbeit gepennt, als Katie sich unentschuldigt abgesetzt hatte.
    Drei Jahre lang war trotz all der Bilder, die ich an Laternenpfähle oder Ladenfenster geklebt und auf sämtlichen Internetseiten über vermisste Personen eingestellt hatte, nicht der leiseste Hinweis auf sie aufgetaucht.
    Irgendwann war ich in mein Büro gegangen, hatte angefangen, meinen Stapel Post durchzusehen, dabei einen braunen Din-A4-Umschlag geöffnet – und voilà! Da war sie, abgelichtet vor einem Gebäude mit Namen Rising Moon .
    Es hatte mich keine drei Minuten gekostet zu eruieren, dass es sich dabei um einen Jazzclub in New Orleans handelte. Ich stopfte ein paar Klamotten sowie meine Zahnbürste in einen Rucksack und nahm den nächsten Flieger.
    Ein paar Stunden später stand ich auf einer Straße namens Frenchmen, lauschte den Jazzrhythmen, die aus einer offenen Tür wummerten, und staunte darüber, wie es Mitte Februar so verdammt heiß sein konnte. Als ich in Philadelphia an Bord gegangen war, waren fette Schneeflocken vom Himmel gestoben.
    Ich war noch nie in New Orleans gewesen, hatte nie den Drang verspürt. Ich war kein feierwütiger Typ; ich würde nicht hierher passen. Allerdings hatte ich auch nicht vor zu bleiben. Ich hatte vor, Katie aufzuspüren, und dann nichts wie weg.
    Ich zwang mich, durch die Tür zu treten und den Rauch, den Lärm und die vielen Menschen einfach zu ignorieren. Das Innere war schäbig und eng, kein Vergleich zu den großen, luftigen Gaststätten zu Hause, in denen es massenhaft Tische und reichlich Platz für Billard, Dart und anderen Zeitvertreib gab. Im Rising Moon drehte sich alles um die Musik.
    Ich habe keine Ahnung von Jazz. Gebt mir Aerosmith, ein bisschen Guns N’Roses, an einem echt harten Tag meinetwegen sogar Ozzie. Aber Jazz? Sein Zauber hatte sich mir nie erschlossen.
    Ein Blick auf den Saxophonisten in der Nähe des Eingangsbereichs genügte, um mich das mit dem Zauber noch mal überdenken zu lassen.
    Der Mann war groß und schlank, und alles an ihm – seine Haare, seine Kleidung, selbst die Brille, die seine Augen verdeckte – war dunkel.
    Ich spähte zur Decke. Nicht ein einziger Strahler weit und breit. „Eigenartig“, murmelte ich und erntete damit ein paar missbilligende Blicke seitens der Zuhörer, die den Mann von allen Seiten umringten.
    Es gab keine Bühne. Er stand einfach in einer Ecke und spielte. Das Mikrofon, das Klavier und das unbesetzte Schlagzeug ließen mich zu dem Schluss kommen, dass tatsächlich die Ecke die Bühne war.
    Er hielt sein Saxophon, als wäre es das Einzige, was er je geliebt hatte. Obwohl es mich in den Fingern juckte, Katies Foto allem, was zwei Beine hatte, unter die Nase zu halten, konnte ich nicht anders, als gebannt diesem Fremden und seiner Musik zuzusehen und zuzuhören.
    Trotz der Sonnenbrille, die sein Gesicht in zwei Hälften teilte, erkannte ich, dass er sehr attraktiv war. Er trug sein Haar kurz geschoren, wodurch die ganze Aufmerksamkeit auf die scharfe Kontur seiner Wangenknochen und den teuflisch penibel gestutzten Oberlippen- und Kinnbart gelenkt wurde.
    Seine Hände waren langgliedrig und elegant – es waren die eines Aristokraten in einer Welt, die für derartige Charakteristika längst jeden Sinn verloren hatte. Er schien Europäer zu sein, was mir bei genauerer Überlegung nicht wirklich absurd vorkam.
    New Orleans war schon immer mehr ein internationales als ein rein amerikanisches Pflaster gewesen. Eine Stadt, wo das Leben in gemächlicheren Bahnen verlief, Musik und Tanzen Bestandteil jedes Tages und jeder Nacht waren, wo französische Worte ebenso selbstverständlich gemurmelt wurden wie Flüche. Kein Wunder, dass ich mich seit dem Moment, als ich aus dem Flieger gestiegen war, nervös und unwohl fühlte. Ich war ein Landei und würde das auch immer bleiben.
    Das Stück, was auch immer es war, verklang; die letzten Töne trudelten der hohen Decke entgegen und schwebten davon. Die gebannte Stimmung, die über den Zuhörern gelegen hatte, löste sich
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