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Blutwind

Blutwind

Titel: Blutwind
Autoren: Jakob Melander
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Mai 1953
    Sturm zieht an diesem kühlen Frühjahrsabend über den Øresund und peitscht Schaum auf die Wellenkämme. Tief und rot hängt die Sonne über dem Land, von der Halbinsel Amager ziehen violette Wolkenstreifen auf. Ein Schwarm Silbermöwen schreit im Aufwind und kreist über dem Kadaver, der sich in den Wellen des Sees auf- und abwiegt. Ein Zug Pfadfinder überwindet die Erdwälle um das Fort Charlottenlund, im Gänsemarsch laufen sie über die grasbewachsenen Böschungen. Lemminge, die sich in Reih und Glied durchs Gebüsch arbeiten. Hin und wieder fährt ein Auto auf dem Strandvejen vorbei, sonst ist alles menschenleer.
    Die blau gefrorenen, schiefen Knie der kleinen Jungen klirren, sie ducken sich und verschwinden hinter den Kanonenbatterien, um kurz darauf wieder aufzutauchen. Die erste Möwe stürzt herab, reißt einen Klumpen weißes Fleisch aus dem aufgeblähten Bauch des Kadavers, kurz darauf die nächste. Der Pfadfindertrupp hat den Damm, der zum Strandvejen und zum waldähnlichen Schlosspark Charlottenlund führt, schon fast hinter sich gelassen.
    Ein größerer, knochiger Junge bildet die Nachhut, er stolpert den anderen hinterher. Keucht in dem heftigen Sturm. Der Abstand zu den Letzten der Gruppe wächst.
    Vorn wird gesungen. Der Wind verweht die Stimmen, schleudert ihm Bruchstücke ins Gesicht.
    Ein Dicker und ein Dünner, die wollten wandern gehn
    Dem Dicken wurd’s lang, seine Hose, die sprang
    Der Dünne lief ins Städtchen, küsste alle Mädchen
    Doch dann wurd’ er frech
    Und das war sein Pech
    Dünner, Dünner, um dein Leben lauf besser –
    Denn hier kommt der Dicke mit dem Schlachtermesser
    Dünner, Dünner, um dein Leben lauf besser –
    Denn hier kommt der Dicke mit dem Schlachtermesser
    Die Kolonne schlängelt sich über den Strandvejen und verschwindet zwischen den Baumstämmen. Der Nachzügler muss ein Cabriolet abwarten, das Richtung Norden fährt. Aus dem vorbeifahrenden Wagen lächelt ihm vom Beifahrersitz ein blondes Mädchen zu. Dann ist das Auto verschwunden, und er kann über die Straße gehen.
    Das Echo der Stimmen vibriert noch immer zwischen den Bäumen:
    Dünner, Dünner, um dein Leben lauf besser …
    Auf der anderen Straßenseite fängt er an zu laufen. Der Rucksack hüpft. Das kalte Metallgestell schlägt ihm gegen die Nieren. Bald gibt es nur noch den Sturm, der durch die Baumkronen fährt, und das heisere Keuchen seines Atems. Den pumpenden Doppelschlag seines Herzens. Vor seinen Augen beginnen die Bäume, sich zu drehen. Eine Baumwurzel greift nach ihm, erwischt seinen Fuß, er stürzt auf den Waldboden. Die krummen Äste strecken sich ihm entgegen, fangen ihn auf. Er will schreien, aber er kann nicht. Sein Mund ist voller Erde und welker Blätter. In einem stummen Schrei um Hilfe streckt er die Arme aus.
    Und dann, mit einem Mal, ist es überstanden. Er liegt auf dem nackten Waldboden, ringt nach Atem, stöhnt vor Schmerz, spuckt Erde und Blätter aus. Er ist allein in der Dämmerung. Und in den Baumwipfeln beginnt es zu singen, immer lauter. Er setzt sich auf, umklammert die Knie mit den Händen, verbirgt sein Gesicht. Die schmalen Schultern zittern.
    Dann kommen die Stimmen.
    Sie heulen mit dem Sturm, schlingen sich um ihn, reiten auf ihm, steigen und fallen in einer langsam kreisenden Kadenz, die mit der Ablösung der sanften Dämmerung durch die Nacht immer lauter wird. Er weiß nicht, wie lange diese rasende Attacke der Stimmen dauert. Er weiß nur, dass er am Ende aufgeben muss, sie ergießen sich über ihn, und er ergibt sich der Dunkelheit und dem Grauen.
    Als die Männer mit ihren Hunden und Lampen ihn finden, liegt er auf dem Rücken, mit dem Unterkörper in einem Wasserloch, Speichel am Mund, wild dreinblickende Augen, den Kopf mit Erde verschmiert. Stunden haben sie nach ihm gesucht. Ob er denn nichts gehört hat?
    Doch, schluchzt er am Hals des großen Mannes mit dem vertrauten Geruch, sein Großvater trägt ihn im Arm. Die Stimmen. Er hat Stimmen gehört.
    Einer der Männer untersucht mit seiner Lampe die Lichtung, wühlt mit einem Fuß in der Erde. Hört mal, sagt er, war das nicht hier, wo die Hipo-Leute den Piloten geschnappt haben …?
    Der Großvater bringt den Mann mit einer Handbewegung und einem Blick zum Schweigen. Großvater, der alles bestimmt; Großvater, der immer alles am besten weiß.
    Dann gehen sie zurück zum Haus, wo Mutter wartet. Die Mutter, die niemals spricht.

Teil 1

Samstag, 14. Juni

1
    »Sieh mal,
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