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Lieblose Legenden

Lieblose Legenden

Titel: Lieblose Legenden
Autoren: Wolfgang Hildesheimer
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Das Ende einer Welt
     
     
     
     
     
     
     
    Die letzte Abendgesellschaft der Marchesa Montetristo hat mir
einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Zu diesem Eindruck hat natürlicherweise
auch der seltsame, beinahe einmalige Abschluß beigetragen. Schon dieser allein
war ein Ereignis, das man nicht leicht vergißt. Wahrhaftig, es war ein
denkwürdiger Abend.
    Meine Bekanntschaft mit der Marchesa — einer geborenen Watermann aus Little Gidding , Ohio — beruhte auf einem Zufall.
Ich hatte ihr durch Vermittlung meines Freundes, Herrn von Perlhuhn (des Abraham-a-Santa-Clara-Forschers , nicht des
Neo-Mystikers), die Badewanne verkauft, in welcher Marat ermordet wurde, die
sich — was vielleicht nicht allgemein bekannt ist — bis dahin in meinem Besitz
befunden hatte. Spielschulden hatten mich gezwungen, einige Stücke meiner
Kollektion zu veräußern. Ich geriet also, wie gesagt, an die Marchesa , die für ihre Sammlung von Waschutensilien des
achtzehnten Jahrhunderts gerade dieses Gerät schon lange gesucht hatte. Wir
trafen uns zum Tee, einigten uns nach kurzem, höflichem Handeln über den Preis
der Wanne, und dann geriet unser Gespräch in die Bahn solcher Themen, wie
Sammler und Kenner sie vielfach gemeinsam haben. Ich bemerkte, daß ich durch
den Besitz dieses Sammlerstückes in ihren Augen ein gewisses Prestige gewonnen
hatte, und war daher nicht erstaunt, als ich eines Tages zu einer ihrer
berühmten Gesellschaften in ihrem Palazzo auf der künstlichen Insel San Amerigo
geladen wurde.
    Die Insel hatte sich die Marchesa einige Kilometer südöstlich von Murano aufschütten lassen, einer plötzlichen Eingebung
folgend, denn sie verabscheute das Festland — sie sagte, es sei ihrem
seelischen Gleichgewicht schädlich — und unter dem bereits vorhandenen Bestand
an Inseln hatte sie keine Wahl treffen können, zumal da der Gedanke, sie mit
jemandem teilen zu müssen, ihr unerträglich war. Hier nun residierte sie und
widmete ihr Leben der Erhaltung des Altbewährten und der Erweckung des
Vergessenen oder, wie sie es auszudrücken beliebte, der Pflege des Echten und
Bleibenden.
    Auf der Einladungskarte war die
Gesellschaft um acht Uhr angesetzt, aber die Gäste wurden nicht vor zehn Uhr
erwartet. Überdies erforderte es die Sitte, daß man in Gondeln kam. Auf diese
Weise dauerte die Überfahrt zwar beinahe zwei Stunden, war zudem bei bewegtem
Seegang beschwerlich, wenn nicht gar gefährlich — und in der Tat hatte schon
mancher Gast sein Ziel nicht erreicht, dafür ein Seemannsgrab gefunden — aber
nur ein Barbar hätte an diesen ungeschriebenen Stilregeln gerüttelt, und Barbaren wurden niemals eingeladen. Ein Kandidat, dessen
allgemeiner Habitus auch nur die geringste Scheu vor den Tücken einer solchen
Überfahrt verraten hätte, wäre niemals in die Gästeliste aufgenommen worden. Es
erübrigt sich zu sagen, daß sich die Marchesa in mir
nicht getäuscht hatte, — wenn ich auch, am Ende des Abends, in ihren Augen
versagt haben mag. Diese Enttäuschung indessen hat sie nur um wenige Minuten
überlebt, und das tröstet mich.
    Den Prunk des Gebäudes brauche ich
nicht zu schildern; denn außen war es eine genaue Replika des Palazzo Vendramin , und innen waren sämtliche Stilepochen von der Gotik an vertreten, aber natürlich
nicht verwoben; eine jede hatte ihren eigenen Raum; des Stilbruchs konnte man
die Marchesa wahrhaftig nicht beschuldigen. Auch der
Luxus der Bewirtung sei hier nicht erwähnt: wer jemals an einem Staatsbankett
in einer Monarchie teilgenommen hat — und an solche wende ich mich ja in der
Hauptsache — weiß, wie es zuging. Zudem ist es wohl kaum im Sinne der Marchesa und ihres Kreises, bei schwelgerischer Erinnerung
kulinarischer Genüsse zu verweilen, vor allem hier, wo es gilt, die letzten
Stunden einiger illustrer Köpfe des Jahrhunderts zu beschreiben, deren Zeuge zu
sein ich, als einzig Überlebender, das Glück hatte, ein Glück, welches mir aber
auch eine gewisse Verpflichtung auferlegt.
    Nachdem ich mit der Gastgeberin einige
Höflichkeiten getauscht und ihre Meute langhaariger Pekinesen gestreichelt
hatte, die niemals von ihrer Seite wich, wurde ich der Dombrowska vorgestellt, einer der wirklich großen Doppelbegabungen ihrer Zeit. Denn nicht
nur darf die Dombrowska als die wahre Erneuerin des
rhythmischen Ausdruckstanzes gelten, einer Kunstgattung, die unter ihren Füßen
zu einem mystischen Vollzug wurde, die aber leider mit ihr so gut wie
ausgestorben ist (ich erinnere an
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